Selbstkontrolle statt Gehorsam
Früher machte die Gesellschaft uns ein schlechtes Gewissen, heute tun wir es selbst
Die Schuld steht bei neurotischen Konflikten im Mittelpunkt. Laut Freud entspringen Neurosen „der Gefügigkeit gegen die sozialen Kulturanforderungen“, wobei die Kulturanforderungen als Hauptquelle des Leidens gelten. Das Schuldgefühl entsteht demnach durch den Ödipuskonflikt zwischen Erlaubnis und Verbot und äußert sich in zwanghaften, hysterischen oder phobischen Symptomen. Schuld ist also ein unabdingbarer Bestandteil unserer Gesellschaften. Gleichzeitig ist Schuld aber auch die Quelle psychischen Leidens und geistiger Krankheiten.
Freud entwickelte seine Gedanken in einer Gesellschaft, in der viktorianische Tabus und bürgerliche Verbote das Leben dominierten. Kinder wurden mit Strafen erzogen, dem unentbehrlichen Instrument, um Disziplin einzutrichtern. Gleichzeitig wurde Arbeit entlang mechanischen Gehorsams organisiert. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg änderten sich nicht nur die Lebensbedingungen, auch die Lebensweise wandelte sich: Autoritäre Erziehungs- und Gesellschaftsmodelle wurden diskreditiert, der Zugang zu Konsumgütern, die Studiendauer und die Hoffnung auf sozialen Aufstieg nahm zu. Im Laufe der 1960er- und 1970er-Jahre trat eine neue Dynamik zutage, in der alles, was die individuelle Autonomie betrifft, zum höchsten Wert erklärt wurde: durch eine starke Aufwertung der Wahlfreiheit und der Eigeninitiative, der Innovation und Kreativität. All diese Ideale betonen die Fähigkeit des Einzelnen zum Handeln. Wir haben es mittlerweile mit einem Individualismus zu tun, der durchdrungen ist von den Ideen, Werten und Normen der Autonomie.
Der Übergang von der Arbeitsteilung hin zur flexiblen Arbeit steht dabei im Zentrum. Die Disziplin ändert ihren Sinn: Sie ist nun dem Ziel, Selbstkontrolle zu erlangen, untergeordnet. Fähigkeiten wie sich selbst motivieren zu können, sei es um zu arbeiten oder um Arbeit zu finden, werden wichtiger. Die Disziplin wurde also zur Selbstdisziplin. All das unterstreicht die Verantwortung des Handelnden gegenüber seinen eigenen Handlungen. Diese Veränderung globalen Ausmaßes zeigt sich in unseren Gesellschaften an der Verbreitung von neuen Verhaltensregeln, die zur Autonomie gehören, ebenso wie einst das mechanische Gehorchen zur Disziplin gehörte: Ging es früher darum, Individuen nützlich zu machen, indem man sie gefügsam machte, geht es nun darum, die Fähigkeiten des Einzelnen aus sich selbst heraus zu fördern. Anders gesagt: Man benötigt emotionale Selbstkontrolle.
Vor diesem Hintergrund betonen zahlreiche Psychoanalytiker, dass die vormaligen ödipalen Pathologien narzisstischen weichen. Heute geht es weniger um den Konflikt zwischen Erlaubnis und Verbot. Stattdessen um Identitätsstörungen, Somatisierungen, Abhängigkeiten. Die Depression beherrscht das Krankheitsbild. Anstelle eines verbietenden Über-Ich, geht es nun um das eigene, innere Ideal-Ich, das sich in einem Gefühl des Ungenügens zeigt. Der Stil des Unglücks hat sich also verändert: Nun herrscht die Angst vor, Erwartungen zu enttäuschen, die eigenen Fähigkeiten nicht erfolgreich einsetzen zu können. Ein Gefühl von Machtlosigkeit und Ungenügen überragt alles – verkörpert in der Depression.
Von der Neurose zur Depression, von der Krankheit der Konflikte zur Krankheit des Ideals: Der Ort der Schuld hat sich verändert, doch die Fragen nach emotional- und triebbedingter Selbstkontrolle bleiben genauso entscheidend wie zu Freuds Zeiten. Und damit auch ihre Begleiterscheinungen Angst, Scham, Schuld und Depression. Unsere Gesellschaft ist in dieser Hinsicht sehr fordernd.
aus dem Französischen von Stephanie von Hayek