Schuld

Rachefantasien

In Südkorea boomen Filme, die von Vergeltung erzählen. Warum sind die „Revenge Movies“ so populär?

Das Jahr 2010 gilt in der Filmbranche als ein Jahr der Blockbuster. Überall auf der Welt feierten damals Hollywood­Produktionen wie „Inception“ und „Iron Man 2“ riesige Erfolge. Nur in einem Land wichen die Einspielergebnisse dramatisch von der Norm ab: in Südkorea. Hier trug der Film des Jahres den bis heute im Ausland kaum bekannten Titel „The Man from Nowhere“.

In diesem Action­Thriller erzählt Regisseur Lee Jeong­beom die Geschichte von Cha Tae-sik, einem Ex­Spezialagenten, der herausfindet, dass sich in seinem Apartmenthaus ein schreckliches Verbrechen ereignet hat: Ein Drogenkartell hat seine Nachbarin umgebracht und ihre Organe entnommen. Als Reaktion auf diese Untat werden die nächsten hundert Minuten des Films zu einem echten Blutbad. Tae-sik geht auf Vergeltungsmission, ermordet unzählige Menschen und gerät so selbst ins Fadenkreuz der Polizei.

Aus der Distanz betrachtet, könnte man meinen, dass es vielleicht das martialische Drehbuch war, das dem Film 2010 zu seinem durchschlagenden Erfolg verhalf. Doch Kenner des koreanischen Kinos würden das wohl bestreiten. Denn tatsächlich fällt „The Man from Nowhere“ in das Genre der „Revenge Movies“, der „Rachefilme“, die in Südkorea seit jeher ein Massenpublikum anziehen. In Filmen mit Namen wie „I Saw the Devil“ (2010) und „The Villainess“ (2017) geht es dabei immer um dieselbe Geschichte: Die Opfer von Gräueltaten rächen sich mit brutalsten Mitteln an ihren Peinigern.

Doch warum ist die Gier nach dem Thema Vergeltung in Korea überhaupt so groß? Kultur- und Filmwissenschaftler mutmaßen, dass dieser Umstand eng mit dem koreanischen Kulturerbe und speziell mit dem Konzept des „han“ zusammenhängt. „Han“ steht für eine Kombination aus einer Art überwältigendem Leid und einem tiefen Ressentiment, das sich im Laufe der Jahrhunderte in die koreanische Psyche eingeschrieben hat. Der Begriff soll jener Verzweiflung einen Namen geben, die aus der Erfahrung jahrzehntelanger Unterjochung durch in- und ausländische Mächte erwachsen ist – also aus 35 Jahren japanischer Kolonialherrschaft, einem verheerenden Bürgerkrieg und der US­amerikanischen Quasi-Besatzung.

Im Nationalgeist ist deshalb wohl ein starkes Bedürfnis des inneren Aufbegehrens verankert, das im echten Leben mitunter unterdrückt wird, gerade deshalb jedoch in Erzählungen und Filmen besonders stark zur Geltung kommt. In der bekannten Komödie „Hunde, die bellen, beißen nicht“ (2000) etwa nimmt der Protagonist Rache an einem Nachbarn, weil dessen Hund ohne Unterlass bellt; und in „The Chaser“ (2008) verfolgt ein Zuhälter einen Mann, den er verdächtigt, ihm seine Prostituierten auszuspannen.

Im Kino darf das aufgestaute han-Gefühl nach außen explodieren, sich ohne Konsequenzen mit aller Gewalt gegen die Schuldigen richten und gewaltsam um sich schlagen. Gerade im Film sucht das koreanische Publikum wohl eine Art kathartischen Moment der Reinigung, in dem negative Emotionen ein Ventil finden und das Selbst, im Avatar der Filmprotagonisten, auf Rachefeldzug geht und über das verhasste Feindbild siegt.

Ob dieses Verlangen sich jedoch wirklich zur koreanischen Eigenart stilisieren lässt, ist wohl spätestens seit dem Erfolg von Quentin Tarantinos Filmen „Inglourious Basterds“ (2009) und „Django Unchained“ (2012) zweifelhaft, die das Motiv der Rache ebenfalls massentauglich aufbereiteten. Und so ist die These zum Rachefilm vielleicht gar keine koreanische, sondern eine universelle: Überall, wo sich Menschen ohnmächtig fühlen, entwickeln fiktive Geschichten über Vergeltung wohl einen besonderen Reiz.  

aus dem Englischen von Karola Klatt