Schuld

Gewissensfragen

Warum empfinden Menschen Schuld? Über die Bedeutung eines elementaren Gefühls

Jüngst erhielt ich hier in Israel das höfliche Angebot einer deutschen Zeitschrift, einen Aufsatz für eine Ausgabe zum Thema „Schuld“ zu schreiben. Jetzt, an meinem Schreibtisch in Tel Aviv, rangeln drei Identitäten um die Computertastatur. Die jüdische Identität, vielleicht die dominanteste der drei, möchte die historische Schuld ansprechen, deren Verfallsdatum sich als erheblich kürzer denn gedacht erwiesen hat. Die Identität der Schriftstellerin möchte über Schuld in der Literatur reden und behaupten, Schuldbewusstsein sei für die Literatur das, was der Sauerstoff für das Leben ist – eine Notwendigkeit. Und meine Identität als Psychologin wiederum zieht mich zum Privaten, zur Schuld im Bewusstsein eines Menschen vor seinen eigenen Augen und denen seiner Lieben. Hier geht es vielleicht um die archaische, elementare Schuld, die Schuld des Menschen vor Gott.

Vom jüdischen Standpunkt aus war eine Frage des deutschen Magazins besonders interessant. Wörtlich lautete sie: „Wie lassen sich historische Verbindungen von Schuld überwinden?“

Besonders reizte mich die in der Frage implizierte Annahme, dass wir die historischen Verbindungen der Schuld überhaupt „überwinden“ möchten. Schuld gilt danach als eine Art Buckel, der sich in den Beziehungen gebildet hat, als ein störendes und toxisches Element: Ließe er sich durch einen präzisen Eingriff entfernen, wäre allen Beteiligten geholfen. Als Jüdin halte ich die Anerkennung der deutschen Schuld nicht für einen Störfaktor in den bilateralen Beziehungen, sondern für deren notwendige Voraussetzung. Ich gebe heutigen Deutschen keine Schuld an den Taten früherer Generationen, fordere sie jedoch auf, sich an ihre kollektive Vergangenheit zu erinnern, sie zu kennen und anzunehmen.

Die Schuldfrage betrachte ich folgendermaßen: Wenn du wegen Goethe und Kant stolz bist, ein Deutscher zu sein, wenn du dich als Sohn einer Hochkultur rühmst und Stolz aus deiner kollektiven Identität und deinen kollektiven Leistungen im Fußball oder in der Literatur gewinnst, dann kannst du – so du eine Spur intellektuelle Ehrlichkeit besitzt – auch nicht der Kollektivscham entfliehen. Kollektiver Stolz („Die deutsche Literatur! Die deutsche Philosophie! Der deutsche Fußball!“)  ist ohne Kollektivscham – die deutsche Geschichte – nicht zu haben.

Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für jede kollektive Identität. Als Israelin trage ich 2.000 Jahre jüdische Opferrolle auf den Schultern, aber auch das Unrecht, das die israelische Regierung den Palästinensern angetan hat und weiter antut. Natürlich ist es sehr verlockend, die Schuld abzuschütteln, beispielsweise zu sagen, es handle sich um eine Regierung, deren Vorgehen ich persönlich ablehne. Aber ohne Schuld geht es trotzdem nicht. Wir dürfen sie nicht „überwinden“ oder abweisen wollen. Wir brauchen die Schuld, weil sie eine notwendige Voraussetzung für jegliche Besserung ist. Es gibt keine Korrektur ohne Schuldgefühl, ohne Verantwortungsbewusstsein. Wenn die Besatzung im Westjordanland nur auf das Konto der „israelischen Regierung“ und nicht auch auf das von „Ayelet“ geht, dann muss Ayelet nicht dagegen ankämpfen. Das kollektive Schuld- und damit auch Verantwortungsbewusstsein veranlasst Menschen, gegen das Unrecht, das ihre Regierungen tun, anzugehen, auch wenn sie nicht direkt betroffen sind. Es ist gut, wenn öffentliche Plätze – in Berlin und in Tel Aviv, in München und in Jerusalem – sich mit Menschen füllen, die dank des Schuldgefühls vom Sessel auf die Straße laufen, um gegen das zu protestieren, was Protest verlangt.

Von den Plätzen und Demonstrationen möchte ich zu den stillen Kliniken übergehen. In den letzten Jahrzehnten ersetzt die Psychologencouch die harten Kirchenbänke – hier beichtet man seine Sünden. Kosteten einen die Sünden in der Kirche einst zehn Ave Marias, so kosten sie einen hier, in der Klinik, um die hundert Euro. Nach dem Ritual fühlt man sich gereinigt. Aber wovon haben wir uns denn beim Psychologen gereinigt? Von der Sünde oder vom Schuldgefühl? Beabsichtigen wir, unser Handeln zu ändern, oder wollen wir es nur anders betrachten?

Zu Freuds Zeiten entsprang die Schuld einem strengen, gelegentlich sadistischen Über-Ich, das die Triebregungen des Einzelnen unterdrückte oder gar erstickte. Die Psychoanalyse brachte einige Emanzipation. Es heißt zwar, wo ein Es war, wird das Ego herrschen, aber die Bewusstwerdung über die Triebregungen des Es befreit an sich schon ein Stück weit von der Tyrannei des Über-Ichs. Doch ähnelt das Wien des 19. Jahrhunderts, wo junge Frauen in Korsetts und gesellschaftliche Konventionen gezwängt wurden, wirklich unseren Zeiten? Liegt das Problem heutiger Menschen in einer übermäßigen Zügelung individueller Triebe und Wünsche – oder nicht gerade umgekehrt in der übermäßigen Vergötterung des Einzelnen, der Befreiung von Schuld und Scham?

Diese Fragen beschäftigten mich, als ich mein drittes Buch, „Lügnerin“, schrieb. Im Mittelpunkt des Romans steht Nuphar, eine unscheinbare Eisverkäuferin, die sich kraft einer Lüge über einen vermeintlichen sexuellen Übergriff, der nicht wirklich stattgefunden hat, in eine Art Cinderella verwandelt. Die Handlung beruht auf einem wahren Fall, der sich in Israel ereignet hat. Bei seiner Aufklärung verkehrten sich die Rollen: Das „Opfer“ erwies sich als die eigentliche Angreiferin und der Beschuldigte als unschuldig. Gleich nach Bekanntgabe dieses Ermittlungsergebnisses stürzten sich in Israel alle auf die Beschuldigerin, die zur Beschuldigten geworden war. Man bezeichnete sie als „Psychopathin“. Das Wort ­„Psychopath“ meint einen Menschen, dem jegliches Schuldgefühl abgeht. Im klinischen Wort­gebrauch bezeichnet es Personen, die an einer schweren antisozialen Persönlichkeitsstörung leiden, keinerlei Schuld empfinden können und daher gemeingefährlich sind.

Aus meiner Sicht ist eine Gestalt, die kein Schuldgefühl empfinden kann, nicht nur moralisch, sondern auch literarisch defekt. Bei ihr gibt es keine Konflikte, und deshalb interessiert sie mich nicht. HBO und andere Fernsehprogramm­anbieter werden mir darin natürlich widersprechen. Unzählige Fernseh­serien und Filme handeln von psychopathischen Mördern, aber trotz der ungeheuer spannenden Handlung dieser Streifen – wie viele Frauen wird der Triebtäter vor seiner Festnahme zerstückeln können – entfalten sie kaum dramatische Spannung. Dramatische Spannung entsteht aus einem seelischen Konflikt, einer Konfrontation zwischen Trieben und Impulsen ­einerseits und dem moralischen Imperativ, den menschlichen, gesellschaftlichen und familiären Pflichten, andererseits.

Schuld ist das, was aufgrund eines solchen Konflikts in der Seele entsteht. Schuldgefühl ist die notwendige Begleiterscheinung jeder Entscheidung, gehört zu der vollen Verantwortung, die ich als freies Subjekt tragen muss. Deshalb ist Schuld für mich der lebenswichtige Sauerstoff der Literatur.
Wo wären Raskolnikow, Anna Karenina, Madame ­Bovary oder Jean Valjean ohne Schuld, ohne den ständigen Konflikt von Leidenschaften und Trieben mit der Gesellschaftsordnung. Auch Figuren, die wir für völlig frei von Schuldgefühl halten – Humbert Humbert aus „Lolita“ zum Beispiel –, fesseln uns gerade wegen ihrer perversen Art, ihres Mangels an Schuldbewusstsein.

Als ich an die Figur von Nuphar dachte, fragte ich mich, was mit einem jungen Mädchen passiert, das keine Psychopathin ist, durchaus Schuld empfinden kann, und sich trotzdem in Lügen über ein imaginäres Sexualverbrechen verstrickt. Eine zahme, kleine Lüge, die Nuphar anfangs fest an der Leine zu halten meint, prescht unvermittelt los und zerrt sie hinter sich her. Nuphar fühlt sich schuldig wegen ihrer Lüge, fürchtet jedoch den Preis, den sie ein Eingeständnis kosten würde. Das Schuldgefühl könnte zur Übernahme von Verantwortung führen, und die hat eben ihren Preis. Nuphars Mutter entdeckt die Lüge ihrer Tochter. Wird sie sie bei der Polizei anzeigen? Israelische Eltern fragen sich heute weniger: Wie erziehe ich mein Kind zu einem guten Menschen?, sondern mehr: Wie erziehe ich mein Kind so, dass es ihm gut geht? Ein Kind, dem es gut geht, ist eines, das sich die meiste Zeit nicht schuldig fühlt. Denn Schuldgefühl ist, wie gesagt, kein besonders angenehmes Empfinden. Eigentlich möchten wir es lieber zum Schweigen bringen. Als Kollektiv wie als Einzelpersonen meinen wir, mit etwas weniger Schuldgefühl hätten wir ein besseres Leben. Aber trifft das zu?

Die Frage der Schuld hat mich auch bei meinem zweiten Roman, „Löwen wecken“, beschäftigt. Der Protagonist, Dr. Etan Grien, hält sich für einen guten Menschen – bis zu dem Moment, als er einen eritreischen Flüchtling am Straßenrand anfährt und den tödlich Verletzten nach kurzem Überlegen seinem Schicksal überlässt. In juristischer Hinsicht liegt Etans Schuld auf der Hand, aber mich interessierte mehr die psychologische Seite. Während des Schreibens beschäftigte mich die Entwicklung des Schuldempfindens. Meine kleine Tochter beispielsweise hat gerade das Alter erreicht, in dem sie ihren jüngeren Bruder nicht mehr in meiner Anwesenheit schlägt. Doch wenn ich aus dem Zimmer gehe und sie mit ihm allein lasse, höre ich ihn wenig später weinen. Das Schuldgefühl meiner Tochter steckt noch in den Kinderschuhen, in Form konkreter Angst vor Strafe. Sie tut nichts Böses, solange zwei Augen sie anblicken. Verschwinden diese jedoch, schwindet auch die Angst vor Strafe.

Aber in ein paar Jahren wird meine Tochter, wenn ich meine Aufgabe richtig erfülle, meine beschuldigenden Augen seelisch so verinnerlicht haben, dass etwas in ihr sie auch in meiner Abwesenheit davon abhalten wird, ihren Bruder zu schlagen. Es ist der verinnerlichte Blick eines Elternteils, der die Basis für das Über-Ich, die Quelle des Schuldempfindens, legt.

Der Arzt in „Löwen wecken“ hat den beschuldigenden Blick seiner Mutter gut verinnerlicht. Er lebt nach einem detaillierten Kodex von „Richtig“ und „Falsch“, ist ein moralischer Mann, der seinen Beitrag zur Gesellschaft leistet. Aber was wird er tun, wenn keiner ihn sieht? Was sind wir alle fähig zu tun, wenn keiner uns auf die Finger schaut? Der Moment, in dem wir uns selbst überlassen sind, in dem die verinnerlichten Augen kurz zufallen, unser Über-Ich bei der Wache einschläft – dieser Moment fasziniert mich als Schriftstellerin und als Mensch.

Keine Erörterung über Schuld wäre vollständig ohne einen Rückgriff auf die Bibel, auf die Erbsünde und die erste Schuld. Auch hier sehen wir, wie das Schuldempfinden durch den Blick eines anderen entsteht. Als Gott sich auf die Suche nach Adam im Paradies macht, versteckt dieser sich. Adam verbirgt sich vor dem Blick Gottes wie ein Kind, das Angst hat, seinen Eltern in die Augen zu sehen, nachdem es etwas Verbotenes angestellt hat. Es gibt den Ausdruck: Wie kann ich ihm oder ihr noch unter die Augen treten, nach dem, was ich getan habe? Die Begegnung zwischen unseren Pupillen und denen eines anderen, oder sogar mit unseren eigenen, die uns aus dem Spiegel entgegensehen, ist eine heikle Angelegenheit.

Die griechischen Tragödien bringen, meine ich, eine anschauliche Unterscheidung zwischen Schuld und Scham, verkörpert in dem Unterschied zwischen Aias und Odysseus. Aias, ein Feind des Odysseus, wird von Athene mit einem Wahn belegt, unter dessen Einfluss er eine Herde Schafe für Odysseus und seine Soldaten hält. Aias tötet die Schafe in dem Glauben, seine Feinde zu besiegen. Als er aus dem Wahn erwacht, empfindet er furchtbare Scham darüber, sich vor aller Welt lächerlich gemacht zu haben, und tötet sich selbst. Nun überlegen wir einmal, was geschehen wäre, wenn keine Zeugen bei seinem Tun dabei gewesen wären. Hätte er die Schafe auf einer einsamen Insel abgeschlachtet und wäre dann wieder zu sich gekommen, hätte er sich vermutlich nicht umgebracht, denn seine Schmach rührt daher, dass er in aller Öffentlichkeit gehandelt, sich vor großem Publikum lächerlich gemacht hat. Als Ödipus hingegen entdeckt, dass er seinen Vater getötet und mit seiner Mutter geschlafen hat, empfindet er Schuld. Schuldbewusstsein besteht auch dann, wenn kein Mensch außer Ödipus etwas von der Tat weiß. Ein Mensch schämt sich vor seinem Mitmenschen und fühlt sich schuldig vor sich selbst. Das ist für mich der Übergang von der Abhängigkeit von fremden Augen, den Augen eines Beobachters, hin zu dem Zeugnis, das wir vor dem inneren Auge, vor uns selbst, ablegen müssen.

aus dem Hebräischen von Ruth Achlama