„Es geht nicht um Schuld und Wiedergutmachung“
Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und der Ökonom Felwine Sarr fordern, dass europäische Museen afrikanische Kunstschätze zurückgeben sollen. Ein Gespräch
Derzeit gibt es eine heftige Diskussion über den Umgang mit der Kolonialzeit. In europäischen Museen liegen viele Kunstschätze, die damals aus Afrika hierhergebracht wurden. Doch ist das Ausplündern von Kulturen nicht etwas, das es zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte gab?
Felwine Sarr: Das ist richtig. Doch gleichzeitig ist das kein Grund, nicht nach der Legitimität solcher Handlungen zu fragen. Unsere Forschung zeigt, wie systematisch die Plünderungen in der Kolonialzeit betrieben wurden. Es gab ein Ausbeuten der ökonomischen, aber auch der geistigen Ressourcen Afrikas. Wenn wir die Beziehungen zwischen den europäischen und den afrikanischen Ländern neu gestalten wollen, müssen wir diesen Teil der Geschichte beziehungsweise das Narrativ dieser Geschichte heilen.
Sie haben für den französischen Präsidenten einen Bericht zur Kolonialkunst in Frankreichs Museen erstellt. Darin plädieren Sie für die Rückgabe afrikanischer Objekte. Warum dreht sich die Kolonialdebatte so stark um das Kulturerbe? Man könnte auch über die Kriege und Massaker dieser Zeit sprechen. Sind Kulturgüter und die Frage, wem sie gehören, nicht ein vergleichsweise harmloses Thema?
Sarr: Vielleicht ist es leichter, über die Objekte andere wichtige Fragen anzusprechen. In Frankreich spricht man zum Beispiel nicht gerne über die Verbrechen, die in Algerien stattfanden. Niemand möchte gerne über die Gewalt in der Kolonialzeit sprechen. Doch wenn man sagt, das Thema ist Kunst, dann wird es einfacher, über die Folgen dieser Zeit für die heutigen Beziehungen zu sprechen.
Denken Sie, dass die Rückgabe afrikanischer Kulturgüter eine Art Wiedergutmachung wäre für andere Verbrechen, die geschehen sind?
Sarr: Ich denke, hier geht es nicht um Schuld und Wiedergutmachung. Es ist wichtig, dass wir die Geschichte kennen und sie reflektieren. Aber die wichtige Frage ist, wie wir uns heute aufeinander beziehen. Ich denke, man ist nicht verantwortlich für die Taten seiner Vorfahren, aber verantwortlich dafür, wie man sich heute zu diesen Taten verhält. Für uns ist am wichtigsten, wie man die Geschichte in der Gegenwart schreibt. Ich bin auch nicht sicher, ob Schuld eine generationsübergreifende Angelegenheit ist, die man von einer Generation zur nächsten weitergeben kann. Ich kann sagen: Dies ist Teil meiner Geschichte. Und was ich in der Gegenwart tue, ist meine Verantwortung. Ich kann auch sagen: Ich profitiere heute von einer alten, vorbelasteten Beziehung. Und ich kann entscheiden, ob ich es wieder so mache oder nicht. Für mich bedeutet Verantwortung, die Beziehungen heute zu verändern.
Bénédicte Savoy: Als wir an unserem Bericht gearbeitet haben, switchten wir eigentlich die ganze Zeit zwischen den Zeiten – zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und wir haben versucht, sie irgendwie miteinander zu „vernähen“. Ich glaube, das ist extrem wichtig: eine Agilität zu üben, sich zwischen den Zeiten zu bewegen. Das ist etwas, was man jungen Menschen beibringen sollte. Das sage ich jetzt als Hochschullehrerin.
Können Sie beschreiben, wie der Umgang mit Kulturgütern mit dem kolonialen System und den Verbrechen, die begangen wurden, zusammenhängt?
Sarr: In der Geschichte der Kulturgüter erkennt man die Globalgeschichte wieder und versteht, warum bestimmte Artefakte in Europa sind. Zum Beispiel die Bronzefiguren aus Dahomey, dem späteren Benin, die heute in Museen in Frankreich und England zu sehen sind. Sie gelangten 1892 nach Europa. 1892 wurde auch das Königreich von Dahomey in einem Militärcoup zerstört. Die Franzosen eroberten Dahomey mit militärischer Gewalt, danach brachten sie die Kunstschätze nach Frankreich. Die Geschichte der Artefakte erzählt also auch die Kolonialgeschichte.
Das künftige Humboldtforum in Berlin wird auch Artefakte aus Afrika zeigen. Was ist die Rolle der europäischen Museen in der Debatte um die Rückgabe der Kulturgüter? Für Ihren Report haben Sie eng mit dem Direktor des Musée du Quai Branly, Stéphane Martin, zusammengerabeitet. Jetzt kritisiert er Ihre Position zur Restitution der Kulturgüter.
Sarr: Es gibt zwei Schwierigkeiten in dieser Debatte. Das Thema Restitution ist verknüpft mit der Biografie der Objekte und der Frage, wie sie in die westlichen Sammlungen gelangt sind. Wenn man diese Fragen stellt, landet man bei der Kolonialgeschichte. Gleichzeitig spricht man aber über einen bestimmten Moment oder einen bestimmten Aspekt der Geschichte. Selbst wenn es konkret um nur einen einzigen Gegenstand geht, steht indirekt im Hintergrund immer die ganze Kolonialgeschichte. Nicht alle Menschen fragen sich, woher sie ihre Weltsicht oder ihren Blick auf andere haben. Doch in der Restitutionsdebatte geht es um das „symbolische Kapital“, das jemand besitzt – etwa Kunst in Museen. Man kann dieses symbolische Kapital infrage stellen und sagen: Diese Objekte gehören mir nicht. Sie gehören anderen Menschen und diese brauchen sie. Es ist nicht richtig, dass der wichtigste Teil ihres Kulturerbes hier bei uns ist und ihnen fehlt. Es fehlt ihnen, weil es eine Geschichte voller Gewalt gab. Ich denke, der nicht bedachte oder nicht erzählte Teil, das Unreflektierte in der eigenen Geschichte, führt dazu, dass es heftige Reaktionen auf unsere Forderungen gab.
Savoy: Stéphane Martin vom Musée du Quai Branly war sehr offen und hat uns die ganze Zeit unterstützt.
Weil er das wollte oder weil er das musste?
Savoy: Er war zuversichtlich, dass alles gut geht. Ein paar Tage vor der Veröffentlichung des Berichts sagte er uns: „Nein, ich muss ihn nicht vorab sehen.“ Die Überraschung war dann, dass wir so klar, wie es in Frankreich noch nie jemand in diesem Zusammenhang gesagt hat, die Verbindung zwischen den Museen und der Kolonialzeit herausgearbeitet haben – und zwar hieb- und stichfest, mit Statistiken, etc. Das gab es vorher nicht, dieser Teil der Geschichte war unsichtbar. Zwar wussten es alle – in Frankreich steht etwa klein an manchen Objekten: „Gestiftet von General Soundso“, aber man spricht dann nicht weiter darüber, so wie man nicht darüber spricht, wenn ein Großonkel schwul ist. Dass wir die Dinge so selbstverständlich benannt haben, hat die heftige Reaktion darauf hervorgerufen.
Haben Sie eine Erklärung dafür, dass manche Dinge als Fakten klar sind, aber es trotzdem so schwierig ist, darüber zu sprechen?
Sarr: Ich denke, das Sprechen darüber ist schwierig für Menschen, die nicht daran interessiert sind, diese Verwicklungen aufzuklären. Es gibt Leute, die sagen, okay, so war die Zeit damals, das war nicht gut, aber jetzt müssen wir weitermachen. Dann gibt es Menschen, die bereit dazu sind, sich mit der Kolonialgeschichte auseinderzusetzen, und die sich anders dazu verhalten wollen. Und dann gibt es Leute, die sich gar nicht auseinandersetzen möchten, die nur den hellen Teil der Geschichte sehen wollen: Diese Kulturschätze sind hier, sie sind wunderschön, warum sollte man die Vergangenheit aufwecken? Ich glaube, es ist einfach sehr schwierig, die gesamte Geschichte zu betrachten. Es ist leichter, sich nur auf einen Teil zu konzentrieren und den anderen zu vergessen. Wenn Europäer in Afrika sind, sehen sie zwar durchaus, dass die Objekte dort fehlen. Sie wissen, dass etwas nicht stimmt, nicht im Gleichgewicht ist. Aber sie bevorzugen trotzdem andere Lösungen.
Savoy: Und dann ist es auch so, dass diese Sammlungen jahrzentelang legitimiert wurden mit Begriffen wie „Rettung“ oder „Dokumentation“. Diese Begriffe sind zwei starke Säulen der Legitimation der Museen seit den Anfängen. Es gab zum Beispiel die Mission Dakar-Dschibuti, in der die Franzosen von 1931 bis 1933 von Dakar bis Dschibuti gesammelt haben, um zu „retten“. In den Dokumenten dazu steht: Es wurde gesammelt, um Geld zu machen. Man wollte eine großartige Sammlung in Konkurrenz zu Großbritannien und Deutschland zusammentragen. In dem Dokument steht auch, dass man dies tun wollte, bevor die Briten und die Deutschen kamen und es taten. So war das. Aber übrig geblieben von der Geschichte ist diese Rhetorik des „Rettens“. Und das glauben viele Leute. Ich denke, das hat stark mit Generationenfragen zu tun. Leute, die in den 1950er- bis 1960er-Jahren aufgewachsen sind, haben immerzu gehört: „Dort wurde etwas zerstört, aber wir haben gerettet, was zu retten war.“ Es geht hier nicht nur um einen Unwillen, etwas zu sehen, sondern auch um eine Unfähigkeit.
Die Logik dieser Argumentation heißt: Wir Europäer haben Museen, in denen wir Dinge bewahren können, die Afrikaner können das nicht.
Savoy: Genau.
Sarr: Wir antworten auf diese Argumentation mit zwei Schritten: Der erste ist, eine Kartografie der Museen in Subsahara-Afrika zu erstellen. Es gibt dort über 500 Museen, sie haben also welche. Der zweite Schritt bedeutet zu sagen: Ein Museum ist ein Ort, an dem man Kulturgüter aufbewahren kann. Es gibt auch andere Möglichkeiten. Es geht darum, dass Gesellschaften entscheiden, wie sie mit ihren Artefakten umgehen wollen.
Was erhoffen Sie sich von der Rückgabe afrikanischer Kunstschätze nach Afrika?
Sarr: Für mich ist die Restitution der Artefakte nicht das wichtigste. Sie ist ein Schritt zur Wiederaneignung des Afrikanischen. Manchmal sagen wir „Objekte“ zu dieser Kunst, aber sie sind gar keine Objekte von ihrer Geschichte her. Wie kann man diese Kunst heute neu zu ihrem Erbe in Beziehung setzen? Wie kann sie wieder wichtig für junge Menschen werden? Wie verbinden wir sie mit dem Thema der afrikanischen Kolonialgesellschaften? Für mich sind das die wichtigen Fragen.
Warum denken Sie, dass die alten Kulturgüter so wichtig für junge Menschen im heutigen Afrika sind? Sind sie nicht viel mehr mit der Kultur von heute verbunden?
Sarr: Ich denke, es ist sehr wichtig, dass sie wissen, dass diese Artefakte einer langen Geschichte entstammen, dass es ihre eigene Kultur war, die sie hergestellt hat, dass es materielle, aber auch geistige, spirituelle Objekte sind. Wenn Sie alle Gemälde aus den Kirchen in Deutschland und Frankreich nehmen und in den Senegal bringen würden – wie wüssten die Deutschen und Franzosen noch, dass das irgendwie zu ihnen gehört? Das gilt für alle Länder und alle Menschen, und ich weiß nicht, warum das für Afrikaner nicht auch gelten sollte.
Also ist es eine Art Versuch, Afrika zurück in die Geschichte zu bringen?
Sarr: Es geht um verschiedene Dinge: darum, Afrika in eine lange Geschichte einzuschreiben und zu wissen, dass Afrikas Geschichte nicht mit der Kolonialzeit begann. Es ist auch wichtig, dass diese Objekte eine Funktion in den alten afrikanischen Gesellschaften hatten. An manchen Orten, etwa in Benin und Kamerun, haben sie diese Funktionen auch heute noch. Und die meisten dieser Objekte sind auch gar keine Objekte.
Was sind sie dann?
Sarr: Subjekte.
Wie denn das?
Sarr: Weil afrikanische Gemeinschaften ihnen in Ritualen Energie und eine Persönlichkeit gegeben haben. So wurden sie zu Artefakten, die handeln können und die in diesen Gemeinschaften die Macht zu handeln hatten. Sie nur als „Objekte“ zu behandeln, verkennt die Funktion, die diese Gegenstände in afrikanischen Gemeinschaften hatten.
Können Sie ein Beispiel geben für ein Artefakt, das ein Subjekt ist?
Sarr: Ein Artefakt ist nicht nur der materielle Ausdruck von etwas. Für Afrikaner symbolisieren solche Objekte nicht die materielle Welt. Für sie ist die Welt materiell und spirituell. Manche Artefakte bezeugen die unsichtbare Welt. Es ist sehr interessant, sich die unterschiedlichen Konzepte anzuschauen, was ein Artefakt ist und was nicht.
Wie wurden diese Artefakte schließlich zu Objekten? Indem man sie wegbrachte?
Sarr: Indem man sie in Museen brachte.
In Museen?
Sarr: Ja. Viele Artefakte waren absolut nicht dafür bestimmt, in Museen zu stehen. Sie hatten bestimmte Funktionen in ihren Gemeinschaften und sollten auch gar nicht von anderen Menschen betrachtet werden. Die Idee, sie an einen Ort zu stellen, um sie einfach anzuschauen wegen der Schönheit ihrer Form, ist eine westliche Idee.
ein Interview von René Aguigah und Jenny Friedrich-Freksa