Eine Revolution wie Samt
Vor einem Jahr jagten die Armenier ihren Ministerpräsidenten mit Demonstrationen aus dem Amt. Wie geht es dem Land heute?
In den Wochen nach seiner Vereidigung am 14. Januar 2019 hat Ministerpräsident Nikol Paschinjan erste Weichen gestellt, um Armenien demokratischer und gerechter zu machen: Er startete eine große Antikorruptionskampagne. Künftig müssen Oligarchen Steuern bezahlen wie jeder andere – in der Vergangenheit hatten sie ihre Nähe zu Politikern oft genutzt, um diese zu hinterziehen. Auch die Gesundheitsfürsorge wurde reformiert, um den bedürftigeren Teilen der Bevölkerung den Zugang zu verbessern. Und durch erste Wirtschaftsreformen werden unter anderem Start-ups gefördert. Paschinjans Ziel ist es, mehr Armenier zu Geschäftsleuten zu machen.
Bislang hält das Vertrauen der Bevölkerung in den ehemaligen Oppositionspolitiker ungebrochen an. Auf sein Betreiben haben die Behörden ihren autoritären Führungsstil abgelegt und sind näher an die Bürger gerückt.
Vor genau einem Jahr, Ende April 2018, geriet das kleine Binnenland mit zweieinhalb Millionen Einwohnern an der Grenze zwischen Europa und dem Nahen Osten in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Die sogenannte „Samtene Revolution“ verwandelte einen ehemals autoritären Nachfolgestaat der Sowjetunion, ohne dass auch nur ein Schuss fiel. Was geschah?
Auslöser für die Revolution war die Entscheidung von Präsident Sersch Sargsjan, nach seiner zweiten Amtszeit im April 2018 Premierminister des Landes zu werden. Sargsjan, der wie sein russisches Pendant Wladimir Putin einst KGB-Offizier gewesen war und die politische Opposition erfolgreich neutralisiert hatte, baute das Land zu einem autoritären Regime um: Wahlergebnisse wurden gefälscht, Demonstrationen aufgelöst, Journalisten und politische Aktivisten regelmäßig angegriffen und Andersdenkende inhaftiert.
Im Jahr 2015 hatte Sargsjan vor einer von ihm angestrebten Verfassungsreform noch erklärt, er wolle das semipräsidiale System in ein parlamentarisches verwandeln, Staatsoberhaupt solle künftig der Premierminister sein. Zugleich versprach er, er werde nicht erneut für das Präsidentenamt kandidieren und sich auch nicht als Ministerpräsident aufstellen lassen. Drei Jahre später allerdings kündigte er an, sich nun doch um das Amt des Ministerpräsidenten zu bewerben.
Anfangs waren die Proteste klein: Am 24. März 2018 demonstrierten nur drei Dutzend Menschen im Stadtzentrum von Jerewan gegen Sargsjans Pläne. Einige Tage später führte Nikol Paschinjan, damals noch ein oppositioneller Journalist und ehemaliger politischer Gefangener, eine weitere dreißigköpfige Gruppe an, die von der zweitgrößten Stadt Armeniens, Gjumri, nach Jerewan marschierte. Paschinjans 14-tägiger Protestmarsch endete am 13. ?April mit einer Versammlung von 4.000 Menschen in der Hauptstadt. Und zu den Demonstrationen kamen immer mehr Menschen. Selbst als an einem Tag 200 politische Aktivisten gefangen genommen wurden, brachen die Proteste nicht ab. Die Demonstranten waren nicht aggressiv, sondern glücklich und euphorisch, und die Festnahmen wurden zu einer Art Flashmob, bei dem junge Menschen ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei spielten.
Aus Angst vor internationaler Kritik ließen die Behörden die Inhaftierten nach wenigen Stunden wieder frei, in der Hoffnung, sie würden sich nicht wieder versammeln. Doch die Aktivisten trieb es immer wieder aufs Neue auf die Straße. Ein Hauptgrund für den anhaltenden Erfolg der Proteste war die Ankündigung Paschinjans, die Kundgebungen und Aktionen gegen Sargsjan dezentralisiert und friedlich durchzuführen. Bilder von den Protesten und Blockaden verbreiteten sich per Livestream über Facebook viral und trieben immer mehr Menschen auf die Straße.
Beinahe täglich blockierten die Aktivisten die Hauptverkehrsstraßen und Brücken der Städte mit ihren Autos, bildeten Menschenketten oder errichteten Hindernisse, die die Polizei aus dem Weg räumen musste. Ein Slogan der Opposition war „Hupe, wenn du gegen Sersch bist“. Die Hupkonzerte, der Lärm der Vuvuzelas, Klatschen und Trommeln waren den ganzen Tag zu hören.
Erst am späten Nachmittag gaben die Aktivisten die Straßen frei, damit ihre Anhänger zum Platz der Republik in Jerewan fahren konnten, wo jeden Abend um 19 Uhr eine Großkundgebung stattfand. Hier gab Paschinjan Anweisungen für den nächsten Tag. Aus Angst vor den Sicherheitskräften rief die Opposition ihre Anhänger dazu auf, nachts nicht auf die Straße zu gehen. Ab 23 Uhr ertönte daher eine „Symphonie des Protests“ in den Wohnvierteln, wo die Menschen ihren Unmut durch das Schlagen auf Töpfe und Pfannen bekundeten.
Das Parlament wählte Sargsjan dennoch zum Premierminister, was die Proteste weiter anheizte. Kundgebungen legten 2018 das gesamte Land lahm. Am 22. April musste Sargsjan einsehen, dass Gespräche mit der Opposition unumgänglich waren. Während des dreiminütigen Zusammentreffens erklärte Paschinjan, er werde Verhandlungen nur aufnehmen, wenn Sargsjan sein Amt als Premierminister niederlege und einen friedlichen Machtwechsel einleite. Am selben Tag verhafteten die Sicherheitskräfte Paschinjan und zwei seiner Parlamentskollegen.
Am folgenden Tag gingen 250.000 Menschen in Jerewan auf die Straße und verlangten den Rücktritt Sargsjans sowie die Freilassung der Oppositionsführer. Das Friedensbataillon der armenischen Armee schloss sich unbewaffnet den Demonstrationen an. Sargsjan sah sich gezwungen, Paschinjan und seine Parlamentskollegen freizulassen und Minuten später von seinem Amt zurückzutreten.
Am 8. Mai 2018 wurde Nikol Paschinjan vom Parlament zum Premierminister Armeniens gewählt. Doch nach der Wahl Paschinjans versuchte die im Parlament die Mehrheit stellende Republikanische Partei die neue Regierung zu sabotieren. Am 2. Oktober 2018 unternahmen die Republikaner den Versuch, ein Gesetz zu verabschieden, das die Schwerpunkte der Regierungsarbeit von Paschinjan bestimmen und vorgezogene Neuwahlen so gut wie unmöglich machen sollte. Paschinjan wandte sich umgehend per Facebook an das Volk und rief die Menschen dazu auf, erneut auf die Straße zu gehen und das Parlamentsgebäude zu umzingeln. Minuten später umkreisten Zehntausende das Parlamentsgebäude und setzten die Abgeordneten des ehemaligen Regimes unter Druck.
Nur wenige Tage später trat Paschinjan zurück, um vorgezogene Neuwahlen herbeizuführen. An den Urnen erhielt sein Bündnis „Im Kajldaschink“ („Mein Schritt“) am 9. Dezember 70,2 Prozent der Stimmen. Die Republikanische Partei lag mit 4,7 Prozent knapp unter der Fünf-Prozent-Hürde und verfehlte den Einzug ins Parlament.
Die friedliche Revolution in Armenien ging aufgrund einiger wichtiger Faktoren ohne einen einzigen Schuss vonstatten. Zunächst gilt ein Wortbruch in der armenischen Gesellschaft als zutiefst unmoralisch. Sargsjans Erklärung, er habe keinerlei Ambitionen auf das Amt des Premierministers, und sein späterer Sinneswandel wurden als Affront aufgefasst. Daneben war das Timing der Proteste günstig. Die Demonstrationen begannen am Vorabend des Gedenktages an den armenischen Genozid am 24. April – zehn Jahre, nachdem mehrere Menschen bei Protesten ums Leben gekommen waren. Dieses Blutvergießen hat sich tief in das öffentliche Gedächtnis eingebrannt. Hätten die Sicherheitskräfte wie zehn Jahre zuvor auf die Demonstranten geschossen, hätte dies nicht nur in Armenien, sondern in der gesamten armenischen Diaspora einen Aufschrei ausgelöst.
Auch die Taktik der Opposition, die Proteste zu dezentralisieren und die Märsche und Demonstrationen zu so etwas wie einem ununterbrochenen Fest der Freiheit zu machen, trieb immer mehr Menschen auf die Straße.
Darüber hinaus hielten sich Großmächte wie Russland und die USA zurück. Die Proteste wurden als innere Angelegenheit Armeniens verstanden und nicht als „Einmischung des Westens“ oder „Aktionen gegen Russland“. Die neue Regierung hat außerdem mehrfach erklärt, sie werde keine außenpolitische Kehrtwende vollziehen, und Russland ist noch immer der wichtigste politische Partner Armeniens.
aus dem Englischen von Claudia Kotte