„Die Wahrheit ans Licht bringen“
Internationale Gerichte helfen, dass Überlebenden aus Konfliktregionen Gerechtigkeit widerfährt. Ein Gespräch mit der Juristin Lotte Leicht
Frau Leicht, wie kann ein Land nach einem schweren und gewalttätigen Konflikt wieder nach vorn blicken?
Vor allem ist es wichtig, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Es ist besonders für Überlebende, für Opfer und ihre Angehörigen entscheidend. Aber es wirkt auch als eine Botschaft an all jene, die glauben, sie könnten ungestraft Gräueltaten begehen. Es ist Teil eines Heilungsprozesses, der es der Bevölkerung ermöglicht, wieder der Regierung und der Justiz zu vertrauen. Und darauf, dass die Regeln mächtig sind und nicht die Mächtigen die Regeln bestimmen. Ich habe im Laufe meines Lebens viele Überlebende gewalttätiger Konflikte getroffen. Es ist nie leicht für sie, aber deutlich einfacher, wenn ein Staat oder eine Institution ihre Notlage ernst nimmt und man ihren Geschichten Gehör schenkt, wie etwa der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Er sendet ein wichtiges Signal an Verbrecher weltweit.
Hat die zunehmende Globalisierung die internationale Zusammenarbeit erleichtert?
Im Gegenteil: Seit Kurzem wird diese multilaterale Struktur ernstlich infrage gestellt. Weltweit ist der Nationalismus auf dem Vormarsch. Internationale Regeln werden als eine Art Selbstbedienungsbuffet betrachtet: Wenn einem eine Regel politisch in den Kram passt, nimmt man sie an, aber wenn nicht, wird sie ignoriert. Doch selbst unter diesen unglaublich schwierigen Bedingungen ist es uns gelungen, neue Mechanismen zu etablieren. Etwa als es unmöglich war, im UN-Sicherheitsrat durchzusetzen, dass der Internationale Strafgerichtshof sich mit Syrien befasst. Russland hatte dagegen ein Veto eingelegt. Vor diesem Hintergrund taten sich Länder aus der ganzen Welt zusammen und schufen durch eine Resolution in der UN-Generalversammlung den „Internationalen, unparteiischen und unabhängigen Mechanismus“, der es ermöglicht, mit oder ohne Mandat in Syrien Beweise zu sammeln. Man kann bereits jetzt sagen, dass es sich um den mächtigsten Mechanismus handelt, um auch künftig für Gerechtigkeit zu sorgen.
Was bedeuten den Opfern solche Strafverfahren?
Wenn Überlebende von schrecklichen Misshandlungen den Mut und die Menschlichkeit haben, sich nicht auf eine Reise der Rache zu begeben, sondern auf Gerechtigkeit zu bestehen, sollten wir uns alle dazu verpflichten, ihrem Wunsch nach Rechenschaft so weit wie möglich zu entsprechen. Der Weg dorthin kann schmerzhaft sein. Aber als etwa der deutsche Generalbundesanwalt den ersten Haftbefehl gegen ein hochrangiges Mitglied von Assads Regime erließ, Jamil Al-Hassan, schöpften syrische Opfer neue Hoffnung.
Hat Sie ein Schicksal aus Syrien besonders beeindruckt?
Etwa das von Mariam Alhallak. Sie ist unter denen, die für den Fall des Bundesanwalts wichtig sind, als Zeugin und als Opfer. Ihr Sohn Aiham wurde in einem von Assads Gefängnissen zu Tode gefoltert. Er war ein vielversprechender junger Zahnmedizinstudent und verschwand, nachdem er sich an Demonstrationen in Syrien beteiligt hatte. Mariam Alhallak fing sofort an, nach ihm zu suchen. Schließlich kam sie an einen Ort, wo Sterbeurkunden ausgehändigt wurden – mit einer Haltung extremer Arroganz, als wären es Gutscheine. Sie bekam eine für ihren Sohn. Sie sah sich in dem Raum um, eine junge Frau erhielt fünf solcher Papiere. Mariam Alhallak versuchte, sie zu trösten, als sie vor Schmerz zusammenbrach. Sie sagte mir, dies sei der Moment gewesen, in dem sie beschloss, ihr Leben dem Kampf um Gerechtigkeit zu widmen. Die Stärke dieser Frau hat mich zutiefst beeindruckt. Das ist die Art von Menschlichkeit, die wir feiern sollten. Sie ist auch ein Teil von Syrien und hoffentlich seiner Zukunft.
ein Interview von Friederike Biron
aus dem Englischen von Caroline Härdter