Die tiefsten Wurzeln unserer Taten
Ein tibetischer Lama erklärt, was das aufrichtige Bedauern im Buddhismus bedeutet
Zeit meines Lebens haben mich viele buddhistische Schülerinnen und Schüler besucht, um mich nach meinem Rat zu fragen. Nicht selten ging es dabei um den Umgang mit Taten, die sie bereuten. Gerade diejenigen, die aus „dem Westen“ kamen, redeten oft von ihren Schuldgefühlen. Wie soll ich je wieder gutmachen, was ich getan habe? Wie kann ich meine Schuld begleichen? Wie bitte ich richtig um Vergebung? Diese Fragen beschäftigten viele von ihnen.
Vor dem Hintergrund der westlichen Moral und Wertvorstellungen und des Einflusses des Christentums ergeben all diese Fragen Sinn. Das Gefühl, eine Erbschuld zu tragen, ist in Europa und Nordamerika stark verankert und viele Menschen tragen ein Gefühl der Unvollkommenheit und Sündhaftigkeit auf ihren Schultern. Zudem sind sie davon überzeugt, dass Schuldgefühle eine soziale Korrekturfunktion haben und präventiv wirken können. Wer Angst davor hat, sich schuldig zu machen, der sieht davon ab, gesellschaftliche Regeln zu brechen oder Normen zu missachten, so die Logik.
Innerhalb der buddhistischen Lehre sind die meisten dieser Gedanken jedoch hinfällig – und deshalb sind auch die Fragen, die aus ihnen entspringen, nicht richtungsweisend. Im Buddhismus gibt es kein permanentes „Ich“, das sich schuldig machen kann, sondern nur eine Form des Selbst, das ständig im Austausch mit der Welt und äußeren Einflüssen steht. Deshalb sind auch gute oder schlechte Taten kein Ausdruck des eigenen Charakters, sondern nur singuläre Ereignisse. Jeder Handlung liegt eine Mischung aus weltlichen Einflüssen zugrunde, die gewisse Emotionen, positive oder negative Gefühle oder Verwirrung auslösen und so Handlungen bedingen. Selbst ein Mensch, der schlechte Dinge tut, ist nicht automatisch ein Sünder, sondern reagiert nur auf externe Gegebenheiten. Das Einzige, was er tun kann, ist seinen Umgang mit diesen Einflüssen zu hinterfragen.
Wie gehe ich mit negativen Emotionen um? Wie reagiere ich auf andere? Was waren die Gefühle, die mich zu einer Tat verleiteten? Das sind die Fragen, um die es im Buddhismus geht. Deshalb spielt die Schuld auch keine große Rolle. An ihrem Ende steht nur selten ein Erkenntnisgewinn. Menschen, die sich schuldig fühlen, haben Angst vor der Bestrafung, Angst vor den Konsequenzen ihrer Taten – und somit auch Angst vor der direkten Auseinandersetzung mit den Gefühlen, die sie zu einer Handlung verleitet haben. Statt zu fragen, was sie antrieb, blockieren sie. Sie wollen es nicht gewesen sein. Wie ein Mantra beten sie den Satz: „Ich wünschte, es wäre nicht passiert!“
Ich sage meinen Schülerinnen und Schülern deshalb, dass sie sich stattdessen im aufrichtigen Bedauern und in der Reue üben sollten – und damit aufhören müssen, ihr „Ich“ als Konstante zu verstehen. Nur weil sie gestern etwas Schlechtes getan haben, sind sie kein schlechter Mensch. Vielmehr haben sie jeden Tag aufs Neue die Gelegenheit, in eine neue Verbindung mit der Welt zu treten.
Nur wer aufrichtig bedauert und Reue zeigt, hat verstanden, was er falsch gemacht hat und was ihn dazu verleitet hat. Derjenige, der sich schuldig fühlt, kann bis an das Ende seines Lebens wissen, dass er Böses getan hat, ohne wirklich zu erkennen, warum. Im Buddhismus spricht man deshalb oft von der Kraft des Eingeständnisses. Statt Sünden zu beichten, müssen die Schülerinnen und Schüler ihr Verhalten erforschen. Je mehr sie über die tiefsten Wurzeln ihrer Taten herausfinden, desto stärker ist auch der Befreiungsmoment, den sie empfinden, wenn sie ihre frühere Ignoranz hinter sich lassen.
Protokolliert von Kai Schnier