Schuld

Die Grenzen der Moral

Was ist richtig, was falsch? Wie ein gemeinsames Schuldempfinden dafür sorgt, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten

Gute Frauen haben Kinder, schlechte Frauen haben Sex: Bis heute prägt dieser Leitsatz in großen Teilen der Welt die Vorstellung davon, wie das Privatleben einer Hälfte der Menschheit auszusehen hat. Folgerichtig war und ist das Leben für viele Frauen ein widersprüchliches. Einerseits sollen sie Kinder zeugen, andererseits jedoch so wenig Sex wie möglich haben.

Zwar gibt es im 21. Jahrhundert insbesondere in der „westlichen“ Welt immer mehr Frauen, die sich über diese Norm hinwegsetzen. Das sexuell befreite Leben hat jedoch trotzdem seinen Preis. Und dieser Preis besteht nicht aus Bußgeldern, richterlichen Schiedssprüchen oder dem gesellschaftlichen Exil, sondern kommt einer viel subtileren und unsichtbaren Bestrafung gleich: Er besteht aus Schuldgefühlen.

Doch wer profitiert eigentlich davon, wenn sich ein großer Teil der Weltbevölkerung schuldig fühlt? Immerhin ist das Gefühl, eine falsche Handlung begangen zu haben, keine konstruktive Emotion. Im Gegenteil: Schuld ist eine Last, hemmt die Kreativität und kann zu erheblichem Leid führen, mitunter in Form psychischer Erkrankungen. Wozu braucht der Mensch sie also?

Um das zu verstehen, gilt es, Schuldgefühle nicht als einfache Emotion, sondern als soziales Mittel zum Zweck zu verstehen. In der Sozialwissenschaft geht man davon aus, dass sie in erster Linie eine Kontrollfunktion haben. Gesellschaften basieren darauf, dass sich eine große Gruppe von Menschen zum Zweck der Erhaltung der Spezies zusammentut. Damit das funktioniert, braucht es klare Regeln. Und da diese Regeln nicht immer allein durch die Androhung von Strafe und Gewalt durchgesetzt werden können – erst recht nicht in modernen demokratischen Gesellschaften –, sind andere Mittel vonnöten.

Zwar mögen Schuldgefühle in Verbindung mit Sex für einzelne Frauen keinen positiven Nutzen haben. Für die Gesamtgesellschaft dürften sie jedoch für geraume Zeit einen durchaus pragmatischen Zweck gehabt haben: Sie waren ein psychologischer Mechanismus zur Eindämmung „sozial unverträglichen“ Verhaltens. In einer Zeit, in der Verhütungsmethoden noch unausgereift oder nur schwer verfügbar waren, konnte einzig und allein eine Kombination aus Schuldgefühlen und der durch sie hervorgerufenen Abstinenz garantieren, dass Menschen sich nicht unkontrolliert vermehrten und somit womöglich unbeabsichtigt dem Gemeinwohl schadeten.

Dabei schossen die Schuldgefühle mitunter auch über ihre sinnvollen Grenzen hinaus: Wenn viele Frauen bis heute schon allein Schuldgefühle haben, wenn sie überhaupt nur an Sex denken, dann deutet das weniger auf eine nützliche Kontrollfunktion der Schuldgefühle hin, als auf einen gewissen Grad ihrer Entartung.

Die Erkenntnis, dass Schuld als Mittel der sozialen Kontrolle gerade im Westen eine große Rolle spielt, ist spätestens seit der Veröffentlichung des Buches „Chrysantheme und Schwert“, das 1946 von der amerikanischen Anthropologin Ruth Benedict herausgegeben wurde, wissenschaftlicher Konsens. In ihrer Abhandlung umriss Benedict die amerikanische Gesellschaft als „Schuldkultur“, in der das Verhalten von Individuen im Geschäfts­ und Privatleben mittels Schuldgefühlen konditioniert wurde.

Benedict stellte jedoch auch eine zweite, vielzitierte These auf. Sie behauptete, dass nicht alle Gesellschaften „Kulturen der Schuld“ seien. Vielmehr gebe es eine weitere Form der sozialen Konditionierung, die mittels des „Schamprinzips“ operiere. Während die soziale Ordnung in den USA vor allem durch das innere Abwägen des eigenen Gewissens und die Frage „Verhalte ich mich fair oder nicht?“ garantiert werde, sei die Frage, die man sich andernorts auf der Welt oftmals eher stelle: „Was werden die Leute denken, wenn ich mich so verhalte?“ Als Beispiel führte Benedict die japanische Gesellschaft an, in der der Impetus zur richtigen Handlung nicht im Schuldverständnis verankert sei, sondern in dem Bestreben, sein Gesicht zu wahren und ein „ehrenwertes“ Leben zu führen.

In den Sozialwissenschaften hat sich dieses Paradigma zum Großteil bis heute gehalten. Man geht davon aus, dass sich jede Gesellschaft im „Schuld-Scham-Spektrum der Kulturen“ verorten lässt. Geht es um Länder im asiatischen oder arabischen Raum, dann wird meist von Schamkulturen gesprochen. Nordamerika und Europa werden wiederum eher am Schuldende des Spektrums angesiedelt.

Was für lange Zeit unbeachtet blieb, ist die Tatsache, dass die Unterscheidung zwischen Schuld­ und Schamkulturen womöglich stark verkürzt ist – und einem äußerst ethnozentrischen und in diesem Falle „westlichen“ Weltbild entsprungen ist. Denn denkt man die Schuld-Scham-Theorie konsequent zu Ende, dann liegt ihr ein normatives Urteil über das Moralverständnis von Kulturen zugrunde. Schuldgefühle werden hier als inneres Korrektiv verstanden, das Menschen bei der Bewertung richtiger und falscher Handlungen hilft. Schamgefühle werden wiederum als Emotion klassifiziert, die primär mit der äußeren Wahrnehmung anderer zusammenhängt. Diese Sichtweise impliziert, dass Menschen in den Schuldkulturen des Westens über einen inneren moralischen Kompass verfügen, Menschen in den Schamgesellschaften der asiatischen und arabischen Welt jedoch nicht. Letztere, so die Unterstellung, überschreiten gesellschaftliche Regeln und Grenzen nur deshalb nicht, weil sie den Zorn anderer fürchten, ihr Gesicht wahren wollen und auf Ehre und Ansehen gepolt sind.

Kurz gesagt: Schuld operiert auf interner, Scham auf externer Ebene. Schuldgefühle machen aus reumütigen Amerikanern und Europäern, die sich der Tragweite ihrer Taten bewusst sind, am Ende des Tages bessere Menschen. Schamgefühle führen dazu, dass die Menschen im Rest der Welt in ständiger Furcht vor dem Urteil anderer leben, ohne  jemals wirklich dazuzulernen. Im Westen führt die Schuld gegebenenfalls sogar zu einem „rationalen“ Klärungsprozess, bestehend aus Gerichtsurteil, Bestrafung, Schuldbegleichung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Im Osten ist mitunter nichts dergleichen möglich, weil ein „Gesichtsverlust“ im schlimmsten Fall irreversibel ist.

In der jüngeren Vergangenheit ist die Anthropologie glücklicherweise zu der Einsicht gelangt, dass diese konsequente Unterscheidung zwischen Scham und Schuld ein Irrtum war. Ein amerikanischer Ehebrecher, der Angst davor hat, erwischt zu werden, spürt nicht zwangsläufig innere Gewissensbisse und Schuld. Auch er fürchtet womöglich einzig und allein die Konsequenzen seines Handelns. Gleichzeitig ist ein Japaner, der Scham empfindet, nicht in jedem Fall von der äußeren Wahrnehmung seiner Mitmenschen geleitet. Die Scham, sich nicht den Normen der Gesellschaft entsprechend verhalten zu haben, kann – so belegen es neue Studien – durchaus ihm selbst entspringen und zum Hinterfragen der eigenen Taten führen.

Trotzdem ist die Unterscheidung zwischen Schuld­ und Schamkulturen keine vollends künstliche. Tatsächlich ist es so, dass Schuld gerade dort einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert hat, wo Wert auf Individualismus gelegt wird. Und das hat einen einfachen Grund: In Gesellschaften, in denen Menschen eine große persönliche Wahlfreiheit haben, ist es wichtig, klare soziale Regeln festzulegen. Hier eignet sich die Schuld als Mittel zum Zweck. Sie gibt ein ethisches System des „Du sollst nicht!“ vor, das in westlichen Gesellschaften schon allein durch den Einfluss des Christentums weit verbreitet ist. So sind etwa die Zehn Gebote ein moralisches Regelwerk, das eine absolute Ethik vorgibt, der es zu folgen gilt.

In Kulturen, die den Kollektivgedanken über den Individualismus stellen und sozialer Zugehörigkeit einen hohen Wert beimessen, spielen derweil Schamgefühle eine größere Rolle. Hier gibt es weniger klare Verbote und weniger eine Ethik des „Du sollst!“. Im Gegensatz zur Schuld entsteht Scham meist nicht, wenn eine konkrete soziale Regel gebrochen wurde, sondern wenn sich jemand unzulänglich fühlt, weil es ihm nicht gelingt, gewisse gesellschaftliche Standards zu erfüllen. Schlussendlich ist also weder die Schuld über der Scham anzusiedeln noch umgekehrt. Beide Gefühle sind Mittel zum Zweck und fungieren als sozialer Klebstoff unterschiedlicher Gesellschaftsformen.

aus dem Englischen von Caroline Härdter