Schuld

Der Fehler meines Lebens

Wie mich somalische Piraten jahrelang gefangen hielten – und ich ihnen am Ende trotzdem vergeben konnte

Einer der ersten und abstoßendsten Sprüche, die ich nach meiner Entführung durch Piraten in Somalia zu hören bekam, war die beiläufige Bemerkung von einem von ihnen: „Du hast einen Fehler gemacht“, sagte er. „Aber Fehler sind etwas Menschliches.“

Auf mich wirkte diese Aussage wie eine Beleidigung. Nicht weil sie unzutreffend war – dass ich einen Fehler gemacht hatte, lag ja auf der Hand. Sondern weil sie implizierte, dass mich eine größere Schuld träfe als ihn. Als hätte ich es verdient, in Gefangenschaft zu geraten. Der Somalier war hager, gut gekleidet und als Übersetzer ein häufiger Gast in dem verdreckten Kerker, in dem seine Bande mich während der ersten Tage meiner Gefangenschaft festhielt. Wie die anderen Übersetzer tat auch er so, als sei er kein Bandenmitglied. Die Übersetzer gaben sich kultiviert und distanziert, aber in Wahrheit standen viele von ihnen weit oben in der Verbrecherrangordnung. Später erfuhr ich, dass der Mann „Boodiin“ hieß. Sein Englisch klang geschmeidig und zugleich verlogen, als wolle er seinem Gegenüber mit jedem Satz das Hirn vernebeln und auf eine Welt einstimmen, in der die Ordnung von Gut und Böse auf den Kopf gestellt wurde.

Die Piraten hatten mich im Januar 2012 entführt. Im Jahr zuvor hatte ich in Hamburg einen historischen Prozess gegen zehn somalische Piraten verfolgt. Anschließend war ich nach Somalia geflogen, um für ein Buch zu recherchieren. Rund ein Dutzend bewaffneter Piraten passte an einer staubigen Schotterpiste unseren Wagen ab. Sie rissen mich vom Rücksitz und schlugen mit ihren Kalaschnikows auf mich ein. Und mir wurde klar, dass nicht nur ich, sondern auch meine Angehörigen und Freunde für meinen Fehler würden büßen müssen.

Boodiin ging es darum, Kapital aus mir zu schlagen. Er gehörte zu einer Gruppe, die mich gekidnappt hatte, um Lösegeld zu verlangen. Dass er so tat, als wäre er ein Außenstehender, der unparteiisch über mein Verhalten urteilt, empfand ich als dreiste Lüge.

Zwei Jahre und acht Monate verbrachte ich mit den Piraten, teilweise auf dem Schiff, und hörte mir ihre Version der Wirklichkeit an. Das trieb mich so zum Wahnsinn, dass ich mitunter daran dachte, ihnen eine Kalaschnikow zu entreißen und das Feuer zu eröffnen oder mich selbst zu erschießen. Ich wusste, dass meine Familie und meine Kolleginnen und Kollegen alle Hebel in Bewegung setzten, um mich freizubekommen. Auch Jahre später noch zerbrach ich mir den Kopf darüber, was mich geritten hatte, als ich mich zu der Reise nach Somalia entschloss: War ein Buch über Piraten diese Qualen wert? Was hatte ich eigentlich erreichen wollen? Die Antworten waren entmutigend. Lange rang ich mit der Frage, ob ich überhaupt weiterleben wollte.

Im Frühjahr 2014 sprach Papst Franziskus in einer Predigt im Radio über Vergebung. Dabei kam mir ein Gedanke: Die Piraten waren zwar böse und hatten sich moralisch an mir schuldig gemacht, aber auch ich war schuldig. Bis zum Hals steckte ich in moralischer Schuld. Vor allem gegenüber meiner Mutter und meiner Familie, aber auch all den Institutionen gegenüber, die sich für meine Freilassung einsetzten. Es wäre heuchlerisch gewesen, mich in meiner Opferrolle einzurichten. Trotz meiner misslichen Lage wurde mir schlagartig bewusst: Es war gut, dass ich mich nicht umgebracht hatte. Ich sollte eher versuchen, mein Martyrium mit anderen Augen zu sehen: Vergebung war möglich.

Ich vergab schließlich den Piraten, die mich bewachten. Daraufhin lösten sich die täglichen Schuldgefühle und die Wut auf. Nur so habe ich es geschafft, diese Zeit zu überleben.

aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld Michael