Angriff der „Neuen Dummheit“
Populismus und Nationalismus befördern die Feindseligkeit gegenüber Intellektuellen. Die wachsende Ablehnung wissenschaftlicher Erkenntnisse gefährdet die Demokratie. Was können wir dagegen tun?
Es gab einmal eine Zeit, in der war es höchst unangenehm, von anderen als „dumm“ gebrandmarkt zu werden. Die Geschichte der Dummheit war noch geordnet, und in ihr gelang es über Jahrhunderte hinweg, andersmeinende oder unliebsame Mitmenschen auf diese Weise sprachlich zu distanzieren und damit gesellschaftlich auszugrenzen. Zwar gab es „die Dummheit“ heute wie damals nur als kommunikatives Konstrukt, weil immer wieder neu entschieden wurde, was warum als dumm galt – das konnten unliebsame politische Positionen sein, aber ebenso Angehörige anderer Völker, Arbeiter, Frauen und immer wieder „Fremde“ jedweder Couleur. Sie alle litten lange unter dem Dummheitsvorwurf. Heute aber scheint an vielen Menschen der Dummheitsvorwurf schlicht abzuperlen. Sie verachten stattdessen unsere Wissensbestände, die uns als etabliert galten, und legen eine offene Feindseligkeit gegen Intellektuelle an den Tag. Dieses Verhalten lässt sich als eine „Neue Dummheit“ bezeichnen, deren destruktiver gesellschaftlicher Charakter nicht unterschätzt werden darf.
In der Geschichte der Dummheit gibt es zunächst einmal die „alte“ Dummheit, die keineswegs dummes Verhalten meint, sondern die stets der Vorwurf der Dummheit durch die vermeintlich Klugen war. Dieser Vorwurf ermöglichte traditionell die Ausgrenzung aller angeblich Unwissenden und Ungebildeten: Nahezu alle „Barbaren“, von denen man in der Weltgeschichte hört, galten den anderen als ungebildet und unkultiviert, und je stärker die Wissensbestände der Menschheit anwuchsen, desto klarer wurden die Trennlinien zu denen gezogen, die von diesem Wissen nicht profitieren konnten. Für die Gebildeten gab es fortan die Einfältigen und die Zurückgebliebenen – die Dummen. Die Philosophen lieferten dazu die Definitionen: „Mangel an Verstand heißt im eigentlichen Sinne Dummheit“, erklärte Arthur Schopenhauer, und als dumm galt schon Immanuel Kant jener, „welcher zu Geschäften nicht gebraucht werden kann, weil er keine Urtheilskraft besitzt“.
Weil niemand in dieser Hinsicht als dumm bezeichnet werden wollte, konnte der Dummheitsvorwurf im öffentlichen Raum so wirkungsmächtig sein. Seine Kraft zur sozialen Distanzierung zeigt sich besonders effektiv bei der politischen Ausgrenzung von Frauen. Hier gelang es den Männern mittels des Dummheitsvorwurfs, ihnen lange Zeit erfolgreich das Wahlrecht zu verwehren: Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde Frauen kaum die Fähigkeit zu einer geistigen Leistung zugebilligt; Charles Darwin schrieb 1871: „Der hauptsächliche Unterschied in den intellektuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, daß der Mann zu einer größeren Höhe in allem, was er nur anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildungskraft sein.“ Eine angebliche weibliche Sonderanthropologie ermöglichte es, den Frauen neben körperlicher Schwäche zwar Emotionalität zuzugestehen, ihnen aber zugleich neben physischer Stärke auch jegliche Rationalität abzusprechen. So konnte die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm nur hilflos konstatieren, dass sich beim Ausschluss von den politischen Rechten „die Frau und der Idiot“ in derselben Kategorie wiederfanden.
Auch in anderen gesellschaftlichen Diskursen funktionierten diese Ausgrenzungsmechanismen: Die aufkommende Sozialdemokratie und die Kapitalismuskritik mussten sich gefallen lassen, als Parolen der dummen Kerle bezeichnet zu werden, und der deutsche Protestantismus war dermaßen stolz auf seine Bildung, dass ihm die Katholiken weithin als mittelalterlich, abergläubisch und dumm galten. Und auch die meisten Formen von Nationalismus weideten sich stets im Dummheitsvorwurf gegen andere Völker. Und der konnte im Prinzip alle Länder und Menschen treffen: Reichskanzler Otto von Bismarck bezeichnete schon mal die Franzosen als „dumme Nation“. Vor allem aber die slawischen Nachbarn waren Gegenstand deutscher Geringschätzung und galten den Deutschen schlechthin als ungebildet und dumm; hier konnte die Herrenmenschenideologie des „Dritten Reiches“ mühelos anknüpfen. Auch der Antiamerikanismus, der in Deutschland zu den zählebigen nationalen Stereotypen zählt, kam nie ohne die kulturelle Geringschätzung der „Amis“ aus.
Wer sich gegen die Diffamierung zur Wehr setzen wollte, musste sich auf einen langen und mühsamen Weg machen. Katholiken, Frauen oder Sozialdemokraten wollten es den anderen beweisen. Sie wollten nicht als irrational und „zu Geschäften nicht zu gebrauchen“ gelten. Sie absolvierten Schulen und Universitäten, glänzten in der Wissenschaft und selbst der Politik, um anerkannt zu werden. Dies war ein mühsamer Prozess, der in vielen Milieus sicher noch immer nicht abgeschlossen ist. Aber die früher so Diffamierten haben weitgehend erreicht, dass sie nicht länger als dumm gelten.
Diese Etappe der Dummheitsgeschichte scheint hinter uns zu liegen, denn heute ist die Befreiung vom sozialen Stigma womöglich gar nicht mehr nötig. Der Dummheitsvorwurf schmerzt nicht mehr; er ist nicht mehr zwangsläufig gesellschaftlich diskreditierend. Ganz im Gegenteil ist es längst möglich, sich selbstbewusst genau mit diesen Attributen auszustatten oder zumindest mit ihnen zu kokettieren. Keineswegs nur in den sogenannten sozialen Netzwerken und im Privatfernsehen ist es eine Eintrittskarte, seine eigene Nichtzuständigkeit für ein komplexes Thema offen zu bekennen: „Ich bin ja kein Experte, aber …“, „Ich habe zwar keine schlauen Bücher gelesen, aber jedes Kind weiß doch, dass …“ Mit solchen Haltungen werden Statements zu durchaus komplexen Themen eingeleitet: zu Klimaschutz und Sozialpolitik, zu Militärstrategien oder Bildungsfragen – begleitet mit Spott auf die angeblich so „Klugen“, die „Schlauen“, die „Intellektuellen“.
Diese Haltung steht in der Tradition der Intellektuellenfeindschaft, die sich besonders mit Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrer aggressiven Form präsentierte: Der Intellektuelle wurde zu einer Reiz- und Hassfigur, vor allem für jede Spielart des politischen Totalitarismus. Wenn im sowjetischen Machtbereich Kommunisten andere Kommunisten hinrichteten, waren sie zuvor oft genug als Intellektuelle diffamiert worden. Und vor allem der Nationalsozialismus attackierte jede Form von tatsächlicher und vermeintlicher Intellektualität nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kultur: Die Diffamierung einer „entarteten Kunst“ war untrennbar mit dem Vorwurf einer angeblich „unnatürlichen“ und zu wahren schöpferischen Leistungen nicht fähigen Intellektualität verknüpft. Häufig waren diese Angriffe zugleich antisemitisch eingefärbt. Der „Geist“ der Intellektuellen machte die Nazis und alle Faschisten rasend – sie setzten ihm das diffuse „Gefühl“ und den „Glauben“ gegenüber. Statt des Wissens des Intellekts sollte das Gefühl des „gesunden Volksempfindens“ herrschen, dessen Zwilling übrigens der „gesunde Menschenverstand“ ist.
Dieses Erbe des „Dritten Reichs“ für die Geschichte der Dummheit ist nicht zu unterschätzen. Das hohe Maß an Feindschaft gegenüber der Intelligenz ist geblieben, und mit ihm übrigens nicht nur die tiefe Zuneigung zum „gesunden Menschenverstand“, sondern auch die Skepsis gegenüber der Wissenschaft, hier vor allem der Geisteswissenschaft. Die „Neue Dummheit“ schließt daran an, sie legt eine latent aggressive Haltung gegen Wissenschaft und Intellektuelle an den Tag, was auch Folgen für die politische Kultur hat. Indem sie einen unverhohlenen Hass auf ein Zerrbild der „Eliten“ vor sich herträgt, die angeblich der Mehrheit der Menschen – dem „wahren“ Volk – ihren Willen aufzwingen, ist sie integraler Bestandteil des modernen Populismus. Dieser ist bekanntermaßen immer demokratiefeindlich, und das ist auch die „Neue Dummheit“. Denn sie stellt auch die Institutionen der Gewaltenteilung und ihre Kompetenzen infrage – nicht nur Parlamente, sondern immer häufiger auch die unabhängigen Gerichte. Sie beharrt auf der Nicht-Anerkennung von Erkenntnissen und Entscheidungen. Auch etablierte politische Akteure nutzen diese Haltung für ihre Zwecke; die Auftritte des Bundesverkehrsministers Andreas Scheuer angesichts fehlerhafter Berechnungen über die Grenzwerte in Abgasen von Dieselfahrzeugen stehen dafür beispielhaft: Bisherige und auch weiterhin gültige Erkenntnisse über die Gesundheitsgefahren durch den Schadstoffausstoß von Autos sind erschüttert, viele Menschen sind sich nicht mehr sicher, ob strenge Messverfahren und Fahrverbote tatsächlich angemessen sind. Wieder einmal wird ein Wissensbestand aus politischem Kalkül attackiert.
US-Präsident Donald Trump gehört zu den Wortführern der „Neuen Dummheit“. Wenn er den von Menschen provozierten Klimawandel schlicht nicht anerkennt, gibt er den anti-intellektuellen Rammbock für andere Irrlichter wie etwa den Präsidenten des Internationalen Skiverbandes FIS, der unlängst den Klimawandel nicht wahrhaben wollte, weil doch allenthalben so viel Schnee liege. Dass sich da viele Menschen ermutigt fühlen, bei der Negation selbst offenkundiger wissenschaftlicher Erkenntnisse mitzumachen, und sich dabei keineswegs ausgegrenzt fühlen, liegt nahe. Auch die Angriffe auf unliebsame Wissenschaften werden so erleichtert: Neben der Klimaerwärmung ist der Umgang mit Gender Studies ein eindrückliches Beispiel. Sie werden als politisch missliebig nicht nur in Ungarn attackiert, wo sich derzeit die Feindschaft gegenüber einer freien Wissenschaft hemmungslos austoben kann, sondern auch hierzulande: In Deutschland fordert die AfD, der Gender-Forschung die staatliche Finanzierung zu entziehen. Dahinter steht die Behauptung, dass dies gar keine Wissenschaft sei – das ist zwar nicht wahr, aber politisch nicht wirkungslos. Dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen inzwischen vermehrt zur Zielscheibe von Empörung und Aggression werden, hat bei einigen schon zu den bedauerlichen Überlegungen geführt, ob sie ihre Forschungsergebnisse nicht lieber anonym veröffentlichen sollen.
So wie populistische Strömungen der „Neuen Dummheit“ quasi eine natürliche politische Heimat geben, so kann jeglicher religiöse Fundamentalismus ihr Glaube sein. Hauptsache, der Glauben rangiert vor dem Wissen. Dabei brauchen die Christen gar nicht mit dem Finger auf irgendwelche „Sekten“ oder „den“ Islamismus zu zeigen; sie selbst haben eine lange und unheilvolle Tradition, voller Selbstbewusstsein die Erkenntnisse der diesseitigen Welt im Dienst einer jenseitigen Instanz zu leugnen. Die sogenannten „Kreationisten“ mit ihrer Ablehnung der Evolutionstheorie sind als evangelikale Überbleibsel dafür ein irritierendes Beispiel, und auch esoterische Strömungen haken sich bei religiösen Fundamentalisten bereitwillig unter: Wer glaubt, braucht nicht mehr zu wissen.
Die „Neue Dummheit“, gekennzeichnet durch ihr Selbstbewusstsein, ihre Feindschaft gegenüber dem Wissen und den Intellektuellen sowie ihre antidemokratische Grundhaltung, hat nichts Niedliches an sich. Und sie dient auch nicht der schaurig-wohligen Belustigung der vermeintlich Klugen. Sie ist als politisch und gesellschaftlich destabilisierender Faktor kaum zu überschätzen, weil dem politischen Handeln die Grundlagen entzogen werden: Diesel-Fahrzeuge sind gesundheitsgefährlich? Menschliches Fehlverhalten trägt zur Erderwärmung bei? Gender Studies leisten einen zeitgemäßen Beitrag zur Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit? Wer solche Fakten ignoriert, handelt anders – aber nicht rational.
Doch wir stehen diesem Phänomen nicht ohnmächtig gegenüber: Die „Neue Dummheit“ erobert sich so viel mentalen Raum, wie die Gesellschaft ihr lässt. Unsere Haltung gegenüber unseren Wissensbeständen, unser Bekenntnis zu einer freien Wissenschaft und Forschung, unsere Wertschätzung von Lehrenden und unser Einstehen für Intellektuelle, Künstler und Journalisten entscheidet darüber, ob unsere demokratischen Gemeinwesen die neuen Attacken überstehen.