„Ich erschaffe keine Idealfiguren“
Die Regisseurin Laura Bispuri hinterfragt das Bild der italienischen »Mamma perfetta«
Frau Bispuri, ihr aktueller Film »Figlia mia« porträtiert zwei sehr gegensätzliche Mutterfiguren. Was fasziniert Sie am Thema Mütter?
In Italien gibt es den Mythos von »La Mamma perfetta«, der perfekten Mutter. Dieses Mutterbild gilt als Vorbild, und das wollte ich infrage stellen. Am Anfang des Films scheint die Figur der Tina diesem mythischen Bild zwar zu entsprechen: Sie ist eine Art Helikoptermutter, die in überbordender Liebe und Fürsorge immer für das Kind da ist und in ihrer Ziehtochter Vittoria eine perfekte Tochter hat. Im Lauf des Films werden die Charaktere komplexer, weil dieses Ideal der Wirklichkeit nicht standhält. Ich erzähle die Geschichte von zwei Müttern, die beide eben nicht perfekt sind. Mich fasziniert die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern, weil ich glaube, dass es eine der stärksten Beziehungen ist, die es gibt.
Sind Mütter die ersten Heldinnen von Kindern?
Am Anfang idealisieren Kinder ihre Mütter. Im Laufe der Zeit negiert das Kind dieses Vorbild und kämpft dagegen an. Ich glaube, es ist immer ein Wechsel von Ablehnung und Idealisierung, wenn Kinder erwachsen werden. Heldenfiguren entsprechen selten der Realität. Ich erschaffe keine Standardheldinnen, wie man sie aus dem Kino gewohnt ist. Solche Idealfiguren halte ich für überholt.
Sie zeigen in Ihrem Film drei starke Frauenfiguren.
Es ist ein Film über ein Mädchen, das zwischen zwei Frauen steht, der biologischen Mutter und der Adoptivmutter. Vittoria wächst bei Tina und ihrem Mann Umberto auf. Tina ist liebevoll und fürsorglich, immer da, wenn man sie braucht. Das ist eine sehr konkrete und sehr reale Liebe, die im Übermaß aber auch erdrücken kann. Erst kurz vor ihrem zehnten Geburtstag trifft Vittoria auf ihre biologische Mutter Angelica. Angelica wirkt auf den ersten Blick unkonventionell und gleichzeitig ein wenig verloren. Sie trinkt und hat viele Affären. Aber sie zeigt Vittoria die Freiheit und den Mut, sich ins Leben zu stürzen. Sie zeigt ihr den Wind, die Höhe, große Landschaften. Sie verleitet sie dazu, ihre eigenen Ängste zu überwinden. Sie setzt sie den gefährlichen und großen Elementen des Lebens aus.
Mit Tina und Angelica scheinen Sie auf den klassischen biblischen Gegensatz zwischen der Heiligen und der Hure anzuspielen. Ist Angelica dabei eine Antiheldin?
Die beiden Figuren sind vielschichtiger, eben nicht nur Heilige oder Hure. Es passiert eine gewisse Rollenumkehr im Lauf des Films. Ich spiele mit diesem Gegensatz der beiden Mutterfiguren auf die biblische Geschichte des Königs Salomon an, worin sich die wahre Mutter darin offenbart, dass sie ihr Kind lieber freigibt, als ihm Schaden zuzufügen. In der Bibel kann es nur eine wahre Mutter geben. In »Figlia mia« erzeugen erst beide Mütter zusammen ein vollständiges Bild. Für mich sind beide verzerrte Heldinnen. Deswegen sind sie aber umso heldenhafter: weil sie real sind. In dieser Imperfektion, in dieser Unvollständigkeit wird die Wirklichkeit greifbar. Erst zusammen ergeben sie eine gute Mutter, an der Vittoria wachsen und sich selbst finden kann.
Stellen Sie mit ihrem Film generell das klassische Bild von Weiblichkeit infrage?
Ich wollte einen Film über Mutterschaft machen, darum steht das Dreiecksverhältnis zwischen den drei Frauen im Mittelpunkt. Aber ich wollte mich auch mit dem Bild der Familie beschäftigen. Das ist nicht statisch, sondern entwickelt sich ständig weiter. Der Ziehvater Umberto ist vielleicht die positivste Figur in der ganzen Geschichte. Weil er ein echter Mann ist, kein Macho. Ein Mann, der lieben kann, ohne Verlustängste. Diese Seite der Männlichkeit wird im Kino nicht oft gezeigt. Aktuell ist es ein politisches Statement, einen Film über starke, widersprüchliche Frauenfiguren zu machen. Jahrzehntelang spielten echte, wahrhaftige Frauengestalten im Kino keine große Rolle.
Das Interview führte Gundula Haage
Aus dem Italienischen von Frank Miesel