Analyse

Gegründet auf Zusammenhalt

Nationale und religiöse Symbole sieht man heute überall in Sarajewo. Doch anstatt die kulturelle Vielfalt der Stadt abzubilden, schaffen sie neue Gräben

Sarajewo ist im Westen ein weithin anerkanntes Symbol des Multikulturalismus, was teils an den materiellen Symbolen einer multireligiösen Stadt, teils am multiethnischen Charakter seiner Gesellschaft liegt. Es gilt als Brücke zwischen Ost und West, Christentum und Islam, Alt und Modern. Dennoch ist die Stadt ein Symbol, das eine bestimmte Art von Multikulturalismus darstellt, so wie er im Westen verstanden wird – romantisiert und zutiefst missverstanden.

Der Multikulturalismus in Bosnien und Herzegowina ging einst weit über bloße Symbole hinaus. Er prägte das Wesen unserer Gesellschaft, er war der soziale Kitt, der sie zusammenhielt.

Nationalismus, auch wenn er irrtümlich für Patriotismus gehalten wird, ist seit Jahrzehnten die größte Herausforderung für den Multikulturalismus in Bosnien und Herzegowina und in anderen Ländern des Westbalkans. Auch in Europa nimmt er inzwischen besorgniserregende Ausmaße an und zeigt sich in Form von Populismus, einer migrations- und EU-feindlichen Stimmung, dem Brexit, dem Aufstieg und Erfolg von Rechtsextremen und anderen radikalen Strömungen. Aus den Tiefen des Balkan betrachtet, scheint die EU als multikulturelles Ideal an Legitimation zu verlieren. Die Menschen sind frustriert und irritiert über den Aufstieg des Populismus und das Infragestellen multikultureller Werte in Europa.

Vor Kurzem habe ich eine Kleinstadt besucht, die rund vier Autostunden von Sarajewo entfernt inmitten schneebedeckter Berge liegt. Man erreicht sie über eine kurvenreiche Straße, die die Grenze zwischen den beiden Landesteilen überschreitet. Während des Friedensabkommens von Dayton wurde vereinbart, Bosnien und Herzegowina in zwei Verwaltungseinheiten, Entitäten, zu teilen: die Föderation von Bosnien und Herzegowina und die Republika Srpska. Die von mir besuchte Stadt befindet sich im Herzen der Republika Srpska. Die Flaggen und Wappen entlang der Straße drängen sich Besuchern förmlich auf. Empfangen werde ich von Mila, einer etwa dreißigjährigen Frau. Ihr zwölfjähriger Sohn, der unter schwerem Autismus leidet, spielt mit einem Pädagogen in einer Ecke des Zimmers. Das Treffen findet in einer hübschen, aber bescheidenen Einrichtung statt, die vor einem Jahr noch nicht existierte. Rund neunzig Kinder mit besonderen Bedürfnissen und Lernschwierigkeiten aus der Stadt und der Umgebung haben hier erstmals einen Ort für sich. Zuvor behielten viele Eltern ihre Kinder zu Hause, da die nächstgelegenen Einrichtungen über fünfzig Kilometer entfernt waren. In dieser konservativen Gemeinde haftet diesen Kindern noch immer ein großes Stigma an, und manche Eltern scheuen davor zurück, sich mit ihnen in der Öffentlichkeit zu zeigen. Mila und einer Gruppe von Eltern gelang es, Fördermittel einzuwerben und diesen Raum einzurichten, damit Kinder wie Eltern einen Ort haben, wo sie sich austauschen, lernen und Therapieangebote wahrnehmen können.

Mila ist stolz darauf, dass die Einrichtung von Eltern und Kindern aller Nationalitäten genutzt wird. In einer Stadt, in der viele Muslime während des Kriegs getötet und vertrieben wurden, spielt es eine große Rolle, dass einige von ihnen zurückgekehrt sind und ihre Häuser neu aufgebaut haben. Sie und ihre Kinder sind in dieser Einrichtung willkommen.

Ganz gleich, welche Nationalität oder Religion Kinder mit besonderen Bedürfnissen haben, ihre Rechte werden überall im Land missachtet. In einer Gesellschaft, die besessen ist von politischer Gleichstellung, werden sie allesamt gleichermaßen ausgegrenzt.

In den 23 Jahren seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens hat der Nationalismus das politische und gesellschaftliche Leben in Bosnien und Herzegowina komplett erstickt. Das ständige Ringen um nationale Rechte und politische Gleichstellung verstellt den Blick auf soziale Ungleichheiten. Doch gerade innerhalb der marginalisierten Gruppen konnten sich Gedanken von Gleichstellung und Multikulturalismus sporadisch behaupten.

Die Wahrnehmung des Balkan in der westlichen Welt schwankt zwischen zwei Extremen, dem »Pulverfass Europas « und dem mulitikulturellen Vorbild. Im Kern beider Auffassungen geht es um Angst und Vertrauen. Die Vorstellung von immerwährenden Konflikten auf dem Balkan wird von Angst genährt, Multikulturalismus aber speist sich aus Vertrauen. Europa und dem Westen geht das Vertrauen verloren und die Angst vor dem Anderen wächst.

Oft ist soziale Ungerechtigkeit die Ursache für wachsenden Nationalismus sowie für die Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit wie in Schottland und Katalonien, dasselbe gilt für den Brexit. Die Schwierigkeiten mit dem Multikulturalismus in Bosnien und Herzegowina zeigen jedoch, dass der Zusammenhang von Nationalismus sowie wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit komplex ist. Das Argument, dass der Nationalismus besonders in wirtschaftlich benachteiligten Regionen floriert, mag auf Ostdeutschland oder Süditalien zutreffen, und sicherlich war die wirtschaftliche Instabilität ein wichtiger Faktor für den Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens. Doch diese Parallelen sagen nicht viel aus. Der ethnische Nationalismus auf dem Balkan unterscheidet sich vom bürgerlichen Nationalismus, der sich in einigen Gegenden Europas ausbreitet. Er unterscheidet sich auch vom Populismus und der Fremdenfeindlichkeit, die ganz Europa erfasst hat. Wie wir in der jüngsten Vergangenheit gesehen haben, ist ethnischer Nationalismus eine eigenständige, mächtige, zerstörerische Kraft.

Der Multikulturalismus ist Teil unserer gesellschaftlichen Tradition und unterscheidet sich in einigen Punkten vom Multikulturalismus des Westens. Nach westlichem Verständnis ist der Begriff eine Frage der Wahl: Eine Gesellschaft triff t ganz bewusst die Entscheidung, multikulturell zu sein, andere zu akzeptieren und mit ihnen in Nachbarschaft zu leben. Oder sie entscheidet sich dagegen. Oder sie wählt etwas dazwischen. Das Schicksal des Multikulturalismus wird also davon bestimmt, wie liberal und off en eine Gesellschaft ist.

In Bosnien und Herzegowina stand der multikulturelle Gedanke nie zur Debatte. Er war unumgänglich, er war eine Lebensweise. Man lebte nicht nur nebeneinander, man lebte miteinander. Er war ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, er war gegründet auf Zusammenhalt. Der Multikulturalismus in Bosnien und Herzegowina war stärker mit sich im Reinen. Unterschiede wurden geschätzt und nicht nur geduldet.

Dies alles klingt vielleicht ironisch, wenn man sich das Ausmaß an Gewalt und Brutalität während des Krieges vor Augen hält. Wenn es jedoch eine Lektion oder Parallele gibt, die man aus dieser Erfahrung ziehen sollte, dann die, dass Kriege und Konflikte den Multikulturalismus nicht zerstören. Untersuchungen zum gesellschaftlichen Vertrauen in Bosnien und Herzegowina aus dem Jahr 2005 haben gezeigt, dass persönliche Erfahrungen mit ethnischer Gewalt keine negativen Auswirkungen auf das Vertrauen zwischen den verschiedenen Ethnien hatten. Ganz im Gegenteil hatten die Befragten, die ethnische Gewalt persönlich erlebt hatten, größeres Vertrauen in die Mitglieder anderer ethnischer Gruppen.

Auf der anderen Seite wurden nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages verstärkte Anstrengungen unternommen, das Wesen einer multikulturellen Gesellschaft und ihr Gefüge auf ideeller Ebene zu ersticken. Die Angst vor anderen ethnischen Gruppen hat sich nach dem Krieg um ein Vielfaches verstärkt und einen Nährboden geschaffen, auf dem die nationalistischen Eliten ein leichtes Spiel mit der Manipulation von Gefühlen hatten. Dadurch ging viel Vertrauen in der Gesellschaft verloren. Das nach dem Krieg geschaffene Bildungssystem vertieft bestehende Gräben zwischen Ethnien und schafft dort neue, wo zuvor keine waren. Multikulturelle Erziehung findet in den Schulen nicht statt.

Sehr wahrscheinlich unterscheiden sich der Multikulturalismus, wie er in Bosnien und Herzegovina gelebt wird, und der, wie er im Westen verstanden wird, in einem zentralen Punkt, nämlich darin, welche Rolle Ethnizität, Nation, Hautfarbe und Religion spielen. Der Grund, warum Multikulturalismus vor dem Ausbruch des Krieges raison d’être in diesem Teil der Welt sein konnte, liegt darin, dass der Ethnie und der Religion im öffentlichen oder politischen Leben keine große Bedeutung beigemessen wurde. Die Menschen identifizierten sich mit den jeweiligen Unterschieden, sodass Gemeinsamkeiten in einer multikulturellen Identität aufgehen konnten.

Sarajewo mag das Musterbeispiel hierfür sein. Doch die große Bedeutung nationaler Symbole, nationaler Identifizierung, die Rolle von Religion und Religionspraxis im öffentlichen Leben drohen das Bild Sarajewos als multikulturelle Stadt zu beschädigen. Im vergangenen Jahr gab es das Ansinnen, eine Schule in Sarajewo nach einem muslimischen Nazi-Anhänger zu benennen. In Pale, einer nahe gelegenen Stadt in der Republika Srpska, wurden Studentenwohnheime nach einem wegen Völkermords verurteilten Kriegsverbrecher benannt. Die Rehabilitation von Kriegsverbrechern und der Geschichtsrevisionismus sind in der gesamten Region zur gängigen Praxis geworden, darunter auch in Kroatien, einem Nachbarland, das vor Kurzem Teil der EU geworden ist.

Viele andere Städte in Bosnien und Herzegowina gelten seit Langem nicht mehr als Symbole für den Multikulturalismus, insbesondere jene, die ethnische Säuberungen und einen Genozid erlebt haben. Als Hauptstadt eines multiethnischen Landes aber trägt Sarajewo eine große Verantwortung dafür, das Bild und die symbolische Bedeutung des Multikulturalismus aufrechtzuerhalten, nicht nur in diesem Land, sondern auch in Europa. Sarajewo muss die ewige Botschaft verbreiten, dass der Multikulturalismus Gesellschaften zusammenschweißt, selbst wenn sie grausame Konflikte durchleiden müssen. Es mag gefährlich sein, allzu enge Parallelen zu ziehen, dennoch kann man die Zukunft multikultureller Gesellschaften in den westlichen Balkanstaaten nicht isoliert von der Zukunft eines multikulturellen Europas betrachten. Für diejenigen unter uns, die seinen Idealen noch immer die Treue halten, hängt das Verständnis von Multikulturalismus davon ab, wie wir unsere individuellen Erfahrungen und Erwartungen an dieses hohe Gut schützen und bewahren. Und davon, wie unsere Gesellschaften mit Ungleichheit umgehen, wie auch immer sie sich manifestiert.

Für mich misst sich der Zusammenhalt einer Gemeinschaft daran, wie ausgeprägt die soziale, wirtschaftliche und politische Gleichberechtigung von Individuen ist. Gemeinschaften entstehen auf der Basis von gemeinsamen Zielen und dem Gefühl eines gemeinsamen Schicksals. Unterschiede müssen überwunden, nicht in den Vordergrund gehoben werden. Der Multikulturalismus in Bosnien und Herzegowina existiert vielleicht nur noch im Kleinen. Dennoch hat er, obwohl er seit über 25 Jahren vor hartnäckigen symbolischen und realen Herausforderungen steht, seine Widerstandsfähigkeit bewiesen.

Er kann nur dann überleben, wenn sich die politischen Eliten stärker darauf konzentrieren, den Bedürfnissen von Mila und ihrem Sohn Rechnung zu tragen, statt Angst und Misstrauen zu institutionalisieren. Andernfalls könnte die Unzufriedenheit derer, die sich benachteiligt fühlen – und die oft am Verletzlichsten sind –, zu etwas anwachsen, das die Sicherheit der Region und Europas in viel stärkerem Maße bedroht. Ein Bekenntnis zu Multikulturalismus und Gleichheit könnte das verhindern.

Aus dem Englischen von Claudia Kotte