Ein großes Gefängnis
Mit der Initiative »Lucha« versuchen junge Menschen den Kongo zu verändern
Rebecca Kabuo, 23, würde gerne ihr Psychologiestudium abschließen, vielleicht sogar promovieren. Aber anstatt in Ruhe an der Universität zu arbeiten, findet sie sich oft im Gefängnis der Stadt Goma im Osten der Demokratischen Republik Kongo wieder.
Ihr Verbrechen? Sie möchte, dass der Präsident des Landes, Joseph Kabila, sich an die Verfassung hält und die Macht an einen legitimen Nachfolger abgibt. Eigentlich hätte die Wahl im Dezember 2016 stattfinden sollen, Kabila hätte nicht mehr kandidieren dürfen. Stattdessen taktiert die Regierung seither, um den Wechsel zu vermeiden. Rebecca Kabuo und ihre Mitstreiter aus der Bewegung »Kampf für den Wechsel« (»Lucha«) prangern diese Verletzung demokratischer Regeln an. »Lucha« ist eine Initiative junger Menschen, eine Frau und vier Männer haben sie im Jahr 2012 gegründet. Sie waren empört, weil der Staat es nicht schafft, die Bevölkerung mit Strom und Wasser zu versorgen. Dabei wäre der Kongo Experten zufolge sogar in der Lage, andere afrikanische Länder mit Strom zu beliefern. Angesichts der Vielzahl von Seen und Flüssen könnte der Kongo Strom aus Wasserkraft produzieren.
Mittlerweile haben sich junge Menschen aus vielen großen Städten des Kongo der Bewegung »Lucha« angeschlossen. Sie organisieren friedliche Demonstrationen, Sit-ins vor den Büros der Machtinhaber und sie sensibilisieren die Bevölkerung für ihre Rechte. »Kabila ist nicht das einzige Problem«, sagt Kabuo. »Die Menschen brauchen Strom, Wasser, Krankenhäuser, gute Schulen und Universitäten.«
In der Tat leiden die Kongolesen seit Jahrzehnten. Im Osten des Landes ist nie wieder Frieden eingekehrt, seit der Genozid in Ruanda 1994 Chaos in das Nachbarland Kongo gebracht hat. Goma, die Hauptstadt der Provinz Nord-Kiwu, grenzt direkt an Ruanda. Es gibt fast keine Barbarei, die dem Kongo erspart geblieben ist: Milizionäre töten Männer, Frauen und Kinder, sie plündern ganze Dörfer. Der Staat und die UN-Blauhelme sind nicht imstande, die Bevölkerung effektiv zu schützen. Weil die Unsicherheit Investoren davon abhält, Unternehmen zu gründen und Arbeitsplätze zu schaff en, ist die Mehrzahl der jungen Leute arbeitslos.
Dabei könnte die Stadt Goma gut vom Tourismus leben, wenn nur Frieden herrschte. Der Kiwusee im Süden und die Masisi-Berge im Osten bilden eine malerische Landschaft. Der Virunga- Nationalpark im Norden, ganz in der Nähe von Goma, ist der älteste Nationalpark Afrikas. Man kann dort Berggorillas beobachten, eine vom Aussterben bedrohte Art. Aber die Touristenzahlen sind klein. Potenzielle Besucher fürchten sich vor den Milizen. Deshalb profitiert die Bevölkerung nicht von Reichtum der Natur. Die Mehrheit hat Schwierigkeiten, sich zu ernähren oder den Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen.
Die Aktivistin Kabuo bedauert, dass der Kongo eines der ärmsten Länder der Erde ist. Sie weiß, dass es anders sein könnte. Im Boden des Kongo lagern Bodenschätze, zum Beispiel Gold, Kupfer, Uran und Koltan, das die Elektroindustrie benötigt. Aber wenn gefordert wird, dass die Bevölkerung davon profitiert und nicht nur jene, die an der Macht sind, versucht die Obrigkeit, all die zum Schweigen zu bringen, die ihre Unzufriedenheit äußern. Polizei, Militär und Geheimdienst sind unangemessen gewalttätig, selbst gegenüber friedlichen Demonstranten aus kirchlichen Kreisen. »Aber das macht mir keine Angst mehr. Ich weiß, dass die Regierung in diesem Land schlecht ist. Wir müssen handeln«, sagt Kabuo. Für sie ist der Kongo »ein einziges großes Gefängnis. Deshalb müssen wir weiter kämpfen«.
»So werden Zivilisationen und Revolutionen geboren«, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler Patient Rafiki, der an der Universität Saint Joseph in Goma unterrichtet. Er ruft eine Regel in Erinnerung, die überall auf der Welt Gültigkeit hat: »Mach gute Politik, dann bekommst du eine gute Wirtschaftslage. «
Bis jetzt ist weder das eine noch das andere im Kongo Realität. Bevor die Wirtschaftskrise sich zuspitzte, das war vor mehr als zwei Jahren, betrug der Wechselkurs für einen US-Dollar noch 920 Kongo-Francs. Der Dollar ist die Parallelwährung des Kongo. Mittlerweile hat sich der Kurs fast verdoppelt, er liegt jetzt bei 1.600 Francs.
»Das Leben ist sehr schwierig geworden «, klagt ein Lehrer an einer Sekundarschule in Goma, der seinen Namen aus Furcht vor Repressalien nicht veröffentlicht sehen möchte. Er hat erlebt, wie der Wert seines Monatsgehalts von umgerechnet hundert US-Dollar auf 59 US-Dollar fiel. Wie alle Staatsangestellten erhält der Lehrer sein Gehalt in Francs, muss aber viele seiner Ausgaben in Dollar begleichen. Selbst die Händlerinnen auf dem Markt verlangen oft Dollar. Einmal ging die Frau des Lehrers auf den Markt, um Holzkohle und ein paar Lebensmittel zu kaufen. Weil das Geld nicht reichte, kam sie mit nichts als der Holzkohle zurück nach Hause. Einige Monate zuvor war sie noch gut mit dem zur Verfügung stehenden Geld ausgekommen. »Ich muss sehr oft Schulden machen, um meine täglichen Bedürfnisse zu decken«, erzählt der Lehrer. Die Verkäuferinnen auf dem Markt sind ebenso betroffen, weil sie die Obst- und Gemüselieferanten in Dollar bezahlen müssen. »Früher konnte ich meine Tochter ernähren und sie zur Schule schicken, aber jetzt schaffe ich das nicht mehr«, sagt Adisa Sifa. Sie berichtet, dass sie ihre Waren nicht loswird, weil die Käufer die höheren Preise nicht bezahlen wollen. Wenn sie die Menge oder die Qualität reduziert, beschimpfen die Kunden sie und gehen.
In dieser an sich schon schwierigen Wirtschaftslage hat die Regierung in Kinshasa nun verfügt, dass das Schengen- Haus geschlossen wird. Dort konnten Kongolesen bislang Visa beantragen, um in Länder der Europäischen Union zu reisen. Nun müssen sie ihre Visa bei den europäischen Botschaften im Ausland beantragen, was jedes Mal eine kostspielige Reise erfordert.
Es herrscht ein diplomatischer Konflikt zwischen dem Kongo und den Westmächten. Die Europäische Union hat einige kongolesische Persönlichkeiten mit Sanktionen belegt, denen sie eine Schlüsselrolle bei der Verletzung von Menschenrechten zuschreibt. Belgien, das vormals Kolonialmacht im Kongo war, hat die Entwicklungshilfe gekürzt. Kinshasa spricht von »europäischer Einmischung« in die kongolesische Politik.
Nach Meinung des Wirtschaftswissenschaftlers Rafiki wird der diplomatische Konflikt die Wirtschaftslage weiter verkomplizieren. »Er wird beispielsweise zur Schließung von mehr als 300 landwirtschaftlichen Kooperativen führen, die von Belgien finanziert wurden und von denen viele Bauern abhängig waren, wenn es um Ausbildung oder Hilfe bei der Ernte ging.«
Und natürlich sind es vor allem Unternehmer, Händler, Künstler oder Menschenrechtsaktivisten, die unter dem Mangel an Visa zu leiden haben. Einige Analytiker glauben sogar, dass es Teil der Strategie des Machterhalts im Kongo ist, den Austausch mit Europa einzuschränken. Europa wird als Unterstützer all jener wahrgenommen, die gegen das Regime sind. Der Ökonom Rafiki kritisiert die Strategie der Regierung: »Die Führung des Kongo sollte von diesem Kräftemessen ablassen, denn am Ende sind dabei die Bürger die großen Verlierer.«
Andererseits vertritt Rafiki die Auffassung, dass es ein Wirtschaftsembargo gegen den Kongo geben sollte. Er räumt ein, dass die Bevölkerung hiervon auch sehr stark betroffen wäre. »Aber sie leidet ja ohnehin schon«, ruft er aus. Er ist überzeugt, dass ein Embargo angesichts einer möglichen Revolte der Bevölkerung die Mächtigen zum Einlenken bewegen würde.
Der Soziologe Justin Mwanatabu von der Universität für Frieden und Konfliktmanagement in Goma ist überzeugt, dass das derzeitige Regime nichts aus der Vergangenheit gelernt hat: Seiner Ansicht nach macht Präsident Joseph Kabila fast dieselben Fehler wie Mobutu Sese am Ende seiner Herrschaft. Der ehemalige Diktator habe ein Land hinterlassen, dessen Wirtschaftslage miserabel und dessen Währung sehr schwach gewesen sei.
Angesichts der unglücklichen Lage vieler Kongolesen könnte man sich fragen, warum sich die Bevölkerung so wenig für ihre Rechte einsetzt. Die Angst vor Erschießung oder die Armut oder die Hoffnungslosigkeit mögen die Bevölkerung daran hindern, auf die Straße zu gehen. Aber reicht das aus, um diese Passivität zu erklären, wenn es darum geht, einzufordern, was einem zusteht? Nein, sagt der Soziologe Mwanatabu. Er sieht die kongolesische Gesellschaft als Opfer ihrer Sitten und Gebräuche: »Man fürchtet die Oberhäupter und unterwirft sich ihnen deshalb, trotz allem.«
Manche Kongolesen hingegen fragen sich, ob sich nach Kabilas Abgang etwas ändern würde. Werden die neuen Machthaber die Korruption und das schlechte Regierungssystem beenden? In jedem Fall sind die Widersacher des Regimes in den Augen mancher Beobachter nicht allzu glaubwürdig. Die Mehrheit von ihnen stammt aus dem Umkreis des jetzigen Präsidenten. Wenn es denn einen Regimewechsel gäbe, wäre es das Beste für den Kongo, wenn eine Persönlichkeit an die Macht käme, die der politischen Kaste fernsteht. Dies ist die Einschätzung von Fidel Bafilemba, einem unabhängigen Forscher. Warum nicht jemand aus der Mitte der Zivilgesellschaft? So denken zumindest Aktivisten wie Rebecca Kabuo.
Sie hat kein Vertrauen mehr zur politischen Klasse. Zwar hat die Regierung inzwischen versprochen, dass es am 23. Dezember 2018 Wahlen geben wird. Aber es wird zunehmend schwer, ihr zu glauben: Ein ähnliches Versprechen hatte sie bereits 2016 und 2017 abgegeben, aber man hatte sich nicht daran gehalten. Kabuo wird weiterhin für ein Land kämpfen, in dem es wahrhaft demokratisch und gerecht zugeht. Drohungen können diese junge Frau und die anderen Aktivisten der »Lucha«-Bewegung nicht aufhalten. Eine derartige Entschlossenheit habe es bislang in der Geschichte des Landes nicht gegeben, konstatiert der Soziologe Mwanatabu. Für ihn ist sie »eine gute Sache«. Selbst wenn derzeit noch nicht alle jungen Menschen diese Entschlossenheit zeigen. Aber wer weiß, wie es morgen aussieht?
Aus dem Französischen von Caroline Härdter