„Du musst ein Besessener sein“
Der Professor spricht über seine Arbeit als Menschenrechtsanwalt
Herr Sands, das 21. Jahrhundert tut sich schwer mit Helden. Es gibt jedoch Menschen, die sich unter Gefahr für das eigene Leben für andere einsetzen, wie etwa die Menschenrechts- und Umweltaktivistin Berta Cáceres in Honduras. Können sie die Helden unserer globalen Gesellschaft sein?
Um ein Held zu sein, musst du Opfer bringen. Ein Menschenrechtsaktivist ist per se noch kein Held. Es muss jemand sein, der etwas tut, das jenseits seiner persönlichen Interessen liegt, jemand, der einen persönlichen Preis zahlt, um die Würde eines Menschen zu schützen.
Was braucht es ihrer Meinung nach, um ein Held zu sein?
Ich denke sofort an den deutschen Psychologen Jan ?lhan K?z?lhan. Er arbeitet in einer Klinik in Königsfeld in Baden- Württemberg und hat ein Programm ins Leben gerufen, das 1.100 jesidische junge Frauen, die von Kämpfern des Islamischen Staats (IS) missbraucht und vergewaltigt wurden, nach Deutschland in Sicherheit gebracht hat. Für das Programm musste er mehrmals in den Nordirak reisen. Das war sehr gefährlich und riskant. Dieser Mann ist für mich ein Held.
In Ihrem Buch »Rückkehr nach Lemberg« erzählen Sie von Elsie Tilney, die Ihrer Mutter das Leben rettete, indem sie sie 1938 von Wien nach Paris zu ihrem Vater brachte. Wer war Tilney?
Die Geschichte von Elsie Tilney begann mit einem gelben Zettel, auf dem ihr Name stand, nichts weiter. Meine Mutter hatte ihn mit anderen Erinnerungen meines Großvaters aufbewahrt. Miss Tilney hat vielen Juden das Leben gerettet und hätte jederzeit verhaftet werden können. An Miss Tilney, die eine evangelikale Missionarin war, liebe ich, dass sie Menschen half und nie darüber sprach. Hat sie Menschen aus ideologischen Gründen gerettet, hat sie Juden gerettet, um sie zu Jesus zu bringen? Um ihre Beweggründe zu verstehen, habe ich mit der Schriftstellerin Jeanette Winterson diskutiert, denn auch deren Mutter war eine Evangelikale. Wir kamen zu dem Schluss, dass Miss Tilney aus tiefer Menschlichkeit gehandelt haben muss. Das war der Moment, der mich sehr berührte, weil ich begriff, dass ihre Motivation nicht von einem anderen Projekt vergiftet war, sondern rein.
Raphael Lemkin, den Sie auch in Ihrem Buch als Held beschreiben, stammt wie Ihre Familie aus Lemberg. Er ist Rechtswissenschaftler und entwickelte den Begriff des Völkermordes, den er in den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945–1946 wiederholt einbrachte.
Lemkin hat wirklich genervt. Der amerikanische Chefankläger Ben Ferencz in Nürnberg beschrieb ihn als Pest. Ständig wollte er von seiner Idee des Genozids sprechen. Aber vielleicht ist das ein weiteres Kennzeichen eines Helden: Du musst ein Besessener sein. Lemkin hat mit seiner Besessenheit alle verrückt gemacht. Er ist definitiv ein Held.
Wie steht es mit Hersch Lauterpacht, der Rechtswissenschaftler, der den völkerrechtlichen Begriff »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« für den Nürnberger Prozess entwickelte?
Lauterpacht ist als Charakter vielleicht weniger attraktiv als Lemkin, er war eher prinzipientreu und ehrgeizig. Und er war Teil des Establishments, er respektierte dessen Regeln. Raphael Lemkin war es dagegen egal, was er für einen Eindruck hinterließ, solange er seine Ideen vorantreiben konnte.
Menschenrechte werden heute von Institutionen verteidigt wie dem UN-Menschenrechtsrat oder dem Internationalen Strafgerichtshof. Inwiefern sind aber auch Menschen wichtig, die jenseits institutioneller Normen handeln, um »das Böse« zu entlarven?
1945 gab es keinen institutionellen Rahmen. Lemkin und Lauterpacht bewegten sich in einem Vakuum, sie schufen Ideen und warben für sie. Heute gibt es zwar nationale und internationale Rechte, internationale Organisationen. Aber wenn man in Uganda ein Aktivist für die Rechte Homosexueller ist, Ähnliches gilt vermutlich für Russland, hat man keine nationale Organisation, auf die man sich berufen kann. Man ist in der gleichen Position wie Lemkin und Lauterpacht. Man kann verhaftet werden. Menschenrechtsaktivisten, die außerhalb eines institutionellen Rahmens arbeiten, verdienen unseren besonderen Respekt wegen der Risiken, die sie auf sich nehmen. Das Risiko, das ich dagegen auf mich nehme, um Menschenrechte zu verteidigen, ist gering. Ich gehe in einen Gerichtssaal.
Wie kommt es in jungen Jahren zu solchem Engagement?
Lauterpacht und Lemkin haben sehr jung Diskriminierung erfahren. Lemkin war 1921 in Berlin, als gegen einen Armenier ein Prozess geführt wurde. Letzterer hatte denjenigen getötet, von dem er annahm, dass er verantwortlich für die Ermordung seiner Eltern war. Er wurde freigesprochen. In Lemberg erlebte die jüdische Familie von Lauterpacht ethnische Säuberungen, er musste seine Familie schützen, körperlich schützen. Er begriff: Menschen töten einander, Gruppen töten einander. Als ich Jan K?z?lhan kennenlernte, lernte ich auch eine 19-jährige Frau kennen, die vom IS gekidnappt und 500- mal vergewaltigt worden war. Sie will Anwältin werden, um ihre Gruppe zu schützen, ich helfe ihr. Jan hatte mich kontaktiert, weil er nach einem Experten für Genozid suchte. Warum? Er glaubt, dass es für diese Frauen als Kern eines Programms zur Genesung wichtig ist, als Gruppe existieren zu dürfen und Teil einer Gruppe zu sein sowie die Möglichkeit zu haben, Gerechtigkeit und Recht herzustellen.
Was motiviert Sie, als Anwalt für Menschenrechte zu arbeiten?
In allen Prozessen, die ich führe, geht es um die »Underdogs «, um diejenigen, die gegen die Mächtigen kämpfen. Ungleichheit in einem Kampf um Rechte beunruhigt mich zutiefst. Gerade führe ich einen Prozess für Mauritius gegen die Interessen Großbritanniens. Es geht um das Atoll Diego Garcia, das immer zu Mauritius gehört hat. Als Großbritannien Mauritius 1964 in die Unabhängigkeit entlassen wollte, hat es die Einwohner von Diego Garcia, mehr als 2.000 Personen, umgesiedelt und die Insel als Militärstützpunkt an die USA verpachtet. Jetzt wollen die ehemaligen Bewohner zurück in ihre Heimat. Missbraucht ein mächtigerer Akteur seine Macht, möchte ich das Spielfeld ausgleichen.
Auf welche Gegner und Hindernisse stoßen Sie?
Das Gesetz ist konservativ. Es ist ein fortwährender Kampf, Richtern zu erklären, dass sie sich um die Rechte Schwächerer kümmern sollen. Aber man kann Richter überzeugen. Ich habe etwa einen Häftling von Guantánamo gegen Großbritannien verteidigt. Natürlich gewinne ich nicht jeden, aber doch genügend Fälle, um zu zeigen, dass manmit klugen Argumenten Menschen umstimmen kann. Ich glaube an die Vernunft, an die Kraft von Ideen und Worten.
Der Chefankläger des UN-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien, Serge Brammertz, hat mehrfach festgestellt, dass in den vergangenen Jahren überall in der Region Kriegsverbrecher wieder als Kriegshelden betrachtet wurden. Wie erklären Sie sich das?
Darauf kann ich nicht wirklich antworten, aber Dinge verändern sich. Das, was wir heute als falsch betrachten, kann morgen richtig sein. Im ersten Nürnberger Prozess gingen die Ankläger davon aus, dass alle 24 Angeklagten sterben sollten, alles andere wäre für sie eine Katastrophe gewesen. Am Ende wurden nur zehn oder elf zum Tode verurteilt, die Übrigen wurden zu Haftstrafen verurteilt oder freigelassen. Der Nürnberger Prozess hat eine große Legitimität erzeugt, gerade, weil nicht alle Angeklagten verurteilt wurden. Auch gegen das ehemalige Jugoslawien mussten wir im Tribunal Kriegsverbrecher wie Ante Gotovina gehen lassen. Die Konzepte Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid mussten in den 1930er-Jahren erst geschaffen werden, siebzig Jahre später sind sie völlig anerkannt. Gleiches gilt für den Internationalen Strafgerichtshof und für das ehemalige Jugoslawien. Das Urteil der Geschichte braucht Zeit, um zum Vorschein zu kommen. Richter wissen das.
Welche kühnen Ideen braucht es heute, um Gerechtigkeit und Menschlichkeit näherzukommen?
Wir müssen das Hauptthema von 1945 weiterführen, das heißt, man muss verstehen, dass der Staat Teil des Problems, nicht Teil der Lösung ist. An den Bewegungen wie »Make America Great Again«, dem Brexit, der AfD, Le Pen, an den Regierungen in Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik sehen wir, dass die Menschheit vergessen hat, wozu Menschen fähig sind. Für die Umwelt brauchen wir ein ähnlich transformatives Moment wie 1945. Christopher Stone schrieb 1972 das Buch »Should Trees Have Standing?« Rechte für natürliche Dinge schaffen, in diese Richtung würde ich drängen und gleichzeitig die Rechte für den Menschen verringern. Wir müssen beginnen, uns Rechte für andere Entitäten vorzustellen. Denn wir werfen unsere natürliche Umgebung weg, das ist wirklich problematisch.
Das Interview führte Stephanie von Hayek