„Die Kraft des Kollektivs“
Der Autor und Filmemacher Omar Robert Hamilton spricht über die eigentlichen Helden während des Arabischen Frühlings
Ihr erster Roman »Stadt der Rebellion« spielt während der Revolution 2011 in Ägypten und in der Zeit danach. Die Hauptfiguren Mariam und Khalid engagieren sich in einer Aktivistengruppe in Kairo, kümmern sich um Gefangene und trotzen der Polizei. Halten Sie Ihre beiden Protagonisten für Helden?
Die Revolution war stark, weil sie keine individuellen Helden hatte. Ihre entscheidende Stärke war die Kraft des Kollektivs. Sie hatte auch keine Anführer. Es gab plötzlich diesen organischen Moment, in dem jeder heroisch handelte. Jeder war außergewöhnlich mutig oder großzügig. Dieser nicht individuelle Charakter war kennzeichnend für die Bewegung. Beim Schreiben des Buches wurde das zu einer Herausforderung.
Inwiefern?
In Erzählungen und insbesondere in Romanen geht es immer um Individuen. So bleibt der Leser am Ball und kann sich in die individuelle Psychologie einer Figur hineinfühlen. Da gab es also für mich diese Spannung: Einerseits wollte ich zwei Charaktere haben, die für eine größere Sache stehen, und andererseits, dass sie gleichzeitig Dinge tun, die irgendwie heldenhaft sind, mutig, außergewöhnlich. Als die Revolution dann in sich zusammenfällt und der Optimismus verloren geht, werden diese beiden Figuren immer individueller und isolierter.
Wie verlief 2011 in Ägypten die Dynamik zwischen Individuen und dem Kollektiv?
Du musst als Individuum handeln und an das Kollektiv glauben. Und du agierst so lange als Individuum, bis du mit einem Mal umgeben bist von einer gigantischen Gruppe. Als wäre es geradezu die Aufgabe als Individuum, diesen Moment auszulösen, in dem dann plötzlich jeder da ist. Du suchst nach diesem Katalysator. Die Charaktere in meinem Buch suchen nach einer Nachricht, einer Information, die Menschen dazu motiviert, zurück auf die Straße zu gehen, zurück in die Gruppe. Deine Individualität löst sich in der Menge auf. Die Gruppe bietet auch eine gewisse Sicherheit. Aber wenn man über echte Helden der Revolution sprechen möchte, dann sind das die Menschen, die getötet wurden. Im Buch und auch im wahren Leben haben sie das größte Opfer gebracht.
Die heldenhaften Märtyrer wecken auch das Interesse der Medien. In Ihrem Buch tritt ein ausländischer Regisseur auf, der den Vater eines Märtyrers interviewen will, dabei geht er sehr unsensibel vor. Ist ein solches Vorgehen Ihrer Meinung nach repräsentativ für die Berichterstattung über die Revolution? Einmal ist ja auch die Rede von der »paternalistischen Arroganz der internationalen Kommentatoren «.
Der Regisseur in meinem Buch steht repräsentativ dafür, wie sich die Medienkultur entwickelt hat – insbesondere wegen des 24-stündigen Nachrichtenkreislaufs. Das Publikum wird nicht respektvoll behandelt.
Wie meinen Sie das?
Ständig werden ihm stark vereinfachte und aus dem Kontext gerissene Informationen geliefert. So kann der Zuschauer nicht das für ein Thema nötige Verständnis entwickeln. Alles, was in der Welt passiert, ist das Ergebnis von Dingen, die zuvor passiert sind. Diese Informationen bekommen wir aber nie. Stattdessen gibt es Entertainment ohne geschichtlichen Bezug. Man versteht nie wirklich, was in Ägypten vor sich geht. Mehr noch: Das Publikum bekommt keine Informationen darüber, inwieweit es selbst mit der Sache zu tun hat, insbesondere das ausländische Publikum, in Deutschland oder Großbritannien oder Amerika.
Woran denken Sie dabei?
Es ist sehr wichtig, zu verstehen, welche Rolle ausländische Regierungen, ihre Steuern, ihre Konzerne in diesen Ländern spielen. Wir sind alle beteiligt. Es ist nicht so, dass die Menschen in Ägypten innerhalb ihrer nationalen Grenzen kämpfen und es von ihnen abhängt, ob sie gewinnen oder verlieren. Ägypten ist eingebunden in das globale Netzwerk von Kommerz, Macht und Militarismus. Aber in 35 Sekunden auf Euronews bekommt man davon keine Vorstellung. Die Nachrichten sind so konzipiert, dass man das Gefühl hat, es gehe um etwas Entferntes, etwas Fremdes, etwas, das nichts mit einem selbst zu tun hat.
Haben Sie eine Idee, wie man das ändern könnte?
Das ist die eigentlich interessante Frage. In der letzten Zeit habe ich mich vor allem mit Prosa und anderen Texten beschäftigt. Da ist es viel einfacher. Man kann längere Essays schreiben, die historische Bezüge aufnehmen. Ich weiß nicht genau, wie das im Fernsehen funktionieren könnte. Irgendwie muss man es schaffen, die Nachrichten intelligent zu vermitteln, und sich mehr Zeit nehmen als nur zwei Minuten. Die Leute brauchen nicht alle vier Stunden zweiminütige Nachrichten über Ägypten. Man könnte auch einmal die Woche eine halbe Stunde dafür einplanen. Es sollte nicht nur darum gehen, was in einem bestimmten Moment passiert, sondern auch, warum es geschieht.
Warum ist das so schwer? Sie haben ja selbst Erfahrungen im Film.
Nachrichten sind Entertainment geworden. Zudem denken wir in Kategorien wie Nationalitäten und Sprachgruppen. Tatsächlich ist die Struktur der Welt heute aber sehr supranational. Und die Nachrichten haben in dieser Hinsicht Nachholbedarf.
Die Demonstranten des Arabischen Frühlings wurden in den westlichen Medien als Helden dargestellt, die sich gegen ihre Machthaber erheben. Gleichzeitig stellt sich die Frage: Sollten westliche Staaten überhaupt aktiv werden, um die Demonstranten im Kampf gegen Diktatoren zu unterstützen?
Dazu ließe sich so viel sagen. Zunächst einmal sind die westlichen Staaten an der Sache nicht unbeteiligt. Das ist schon seit Hunderten von Jahren so. Ägypten befindet sich de facto immer noch in der Position einer Kolonie. Der Einmarsch der Briten 1882 und seine Folgen prägen uns bis heute. Und was Deutschand betrifft: Deutschland spielt an dem, was in Ägypten vor sich geht, eine große Rolle. Es ist der Waffenverkäufer Nummer eins. Ägypten hat den größten Deal in der Geschichte von Siemens unterschrieben. Das waren über acht Milliarden Dollar. 2008 wurde dann bewiesen, dass Siemens ein illegales internationales Kartell unterhält. In Ländern wie Venezuela, Russland oder China hat man mithilfe von Schmiergeldern bei lokalen Behörden dafür gesorgt, dass man an öffentliche Verträge kam. Wenn das immer noch so ist, dann bedeutet es, dass große Summen an Bestechungsgeldern ans militärische Establishment in Ägypten gehen.
Gibt es etwas, das Sie persönlich für heldenhaft halten?
Wie Menschen sich in der Revolution verhielten, das ging mit einer gewissen Selbstlosigkeit einher. Ich war und bin immer noch umgeben von sehr starken Frauen. Sie übernahmen während der Revolution Aufgaben in Krankenhäusern, sie arbeiteten in Leichenhallen, sie kümmerten sich um die Familien inhaftierter Menschen. Da gibt es diese Mischung aus Mut und Mitgefühl. Und Unermüdlichkeit. Das dauert bis heute an, denn es sitzen immer noch Tausende in den Gefängnissen.
Ein berühmter Prototyp eines Helden ist der Mann, der den Drachen tötet. Wie etwa der heilige Georg. Das kann man auch auf Diktaturen beziehen. Gibt es eine ähnliche Heldenfigur im ägyptischen Kontext?
Der heilige Georg und sein Drache sind auch in Ägypten sehr populär. Er ist auf vielen Kirchen zu sehen. Ich denke, in Ägypten gibt es die gleiche Dynamik in Bezug auf Heldentum.
Halten Sie es überhaupt für wichtig, Helden zu haben?
Nun, ich denke, letzten Endes ist es etwas Negatives. Was macht der Held? Es ist dieser außergewöhnliche Mensch, der jeden anderen zu einem nicht außergewöhnlichen Menschen macht. Das führt dazu, dass du dich selbst als bedeutungslos wahrnimmst, als jemanden, der erst gar nichts versuchen muss und keine Risiken einzugehen braucht. Schließlich bist du ja kein Held. Die Weltgeschichte ist geprägt von diesen meist männlichen, überragenden Figuren. Sie unterwerfen die Welt ihrem Willen. Man könnte sagen, sie sind so etwas wie die Totems der individualistischen, kapitalistischen Kultur. Die Welt wäre ohne Helden demokratischer und gerechter.
Also sollte nicht ein einzelner Held den Drachen töten, sondern alle gemeinsam?
Ja, genau! Erst den Drachen töten und dann darüber sprechen, was danach passiert: Wie geht es weiter nach dem Terror? Es reicht schließlich nicht, bloß den Drachen zu töten. Man muss danach ein gerechtes System aufbauen.
Das Interview führte Carmen Eller