Alle haben Helden
Wen bewundern Menschen, die selbst bewundert werden? Wir haben nachgefragt
Raue Lebensweisheiten und ein großes Herz
Stefan Sagmeister: TIBOR KALMAN ist mein Designheld. Als Student, vor 25 Jahren, habe ich ihn ein halbes Jahr lang jede Woche angerufen, bis er schließlich bereit war, mich zu treffen. Viel später, als ich schon für ihn arbeitete, habe ich begriffen, was mich an ihm so fasziniert: Es ist sein Verkaufsgeschick.
Es gab damals bestimmt eine ganze Reihe von Leuten, die genauso schlau waren wie Tibor, vielleicht sogar bessere Designer. Aber niemand sonst war so leidenschaftlich und konnte seine Konzepte so überzeugend und ohne Änderungen verkaufen wie er. Als Chef hatte er keine Bedenken, seine Kunden oder seine Angestellten zu verärgern. Ich erinnere mich gut an seine herbe Reaktion auf ein Logo, an dem ich wochenlang gearbeitet hatte: »Stefan, das ist schrecklich, einfach schrecklich, ich bin so enttäuscht!« Sein großes Herz spürte man trotzdem immer. Er hatte den Mut, alles zu riskieren. Und er besaß ein unheimliches Talent dafür, Lebensweisheiten in klare Worte zu verpacken, auch bekannt als ›Tiborismen‹: »Das Schwierigste bei der Leitung einer Designfirma ist es, nicht zu wachsen«, gab er mir mit auf den Weg, als ich mein erstes eigenes Studio eröffnete.
Heroisch für gleiche Rechte
Candice Breitz: Ich bewundere keine Einzelperson, sondern viel mehr ein Team: Genauer gesagt sind die Mitglieder einer großartigen NGO meine Helden. Unter dem Namen SWEAT – SEX WORKERS EDUCATION AND ADVOCACY TASKFORCE setzt sich die Organisation für die Entkriminalisierung von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern in Südafrika ein. Vergangenes Jahr hatte ich glücklicherweise die Möglichkeit, mit Mitgliedern von SWEAT zusammenzuarbeiten. Aus dieser Kooperation ging eine Videoinstallation hervor, in der die Motivation der Engagierten sichtbar wird. Sie setzen im weltweiten Kampf für die Grundrechte der Betroffenen teilweise ihr Leben aufs Spiel.
Ich lerne noch immer unglaublich viel von ihnen, von ihrer Hartnäckigkeit und ihrem Feingefühl. In einem Umfeld, das noch immer voller Ungleichheiten ist, kann ihr politisches und soziales Engagement nur als heroisch bezeichnet werden!
Heldin meines Herzens
Sibs Shongwe-La Mer: Ich versuche immer, mich mit inspirierenden Menschen zu umgeben. Menschen, die mich antreiben. Ich wäre niemals zur Kunst oder zum Film gekommen, wenn die Kunst von anderen mich nicht berührt hätte. Um ein paar Namen zu nennen: ALLEN GINSBERG ist wahrscheinlich der Schriftsteller, dessen Geist mich am meisten beeinflusst hat. Natürlich auch GODARD, TRUFFAUT, CHINO von der Metalband Deftones, außerdem CAMUS, KAFKA, IAN CURTIS und HOWLING WOLF. Alle zusammen bilden eine unerschöpfliche Quelle an Inspiration, da ist es unmöglich zu sagen, was genau von wem beeinflusst ist.
Ich verstehe Helden aber vor allem auch als eine Art persönliche Retter. Meine persönliche Heldin ist darum Jenna Hiscock, die Frau meines Herzens. Wir haben eine unsichtbare Verbindung, sie hält mich zusammen, reißt mich in Stücke und setzt mich wieder neu zusammen. Sie ist die erste und letzte Person, die ich jeden Tag sehe.
Moralische Giganten
Liao Yiwu: Mein tragischer Held ist mein langjähriger Freund LIU XIAOBO, der systemkritische Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist. 1989 haben wir gemeinsam das Tian’anmen-Massaker miterleben müssen. 2010 wurde er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Kurz nach der Entlassung aus dem chinesischen Gefängnis, nach seiner dritten Inhaftierung im Jahr 2000, schrieb er mir in einem Brief folgendes über Helden: »So viele Jahre großer Tragödien, und wir haben immer noch keinen moralischen Giganten vom Zuschnitt eines Václav Havel, eines Ghandi. Damit alle Menschen ihre selbstsüchtigen Rechte bekommen, muss es einen moralischen Giganten geben, der sich selbstlos opfert. Um Freiheit zu erstreiten, braucht es einen aktiv Widerstand leistenden Willen. Man darf nicht auf das kollektive Gewissen der Masse hoffen. Ein wichtiger Grund für das Schweigen und Vergessen nach dem Massaker auf dem Tian’anmen ist, dass sich bei uns kein moralischer Gigant erhoben hat. Ein Volk wie das unsere braucht die inspirierende Kraft eines solchen Vorbilds, ein Einzelner kann umfangreiche moralische Ressourcen wachrufen.«
2017 wurde Liu Xiaobo im Gefängnis ermordet. Für mich ist er ein solcher moralischer Gigant, ein Märtyrer des heutigen Chinas. Er bleibt für immer mein Vorbild.
Ehrlich und revolutionär
Erika Lust: Ich liebe JILL SOLOWAY! Als Autorin und Regisseurin ist sie eine konsequente Verfechterin des »weiblichen Blicks« beim Filmemachen und bringt vielfältige Sexualitäten und Geschlechter auf sehr kraftvolle Weise auf die Bildschirme. Soloways Produktionsweise hat mich in meiner eigenen Arbeit immer inspiriert: Sie arbeitet seit Langem schon mit einem fast ausschließlich weiblichen Produktionsteam und hat bei ihrem Film »Transparent« konsequenterweise viele Rollen mit Trans-Personen besetzt. Soloway sorgt dafür, dass die Stimmen von marginalisierten Menschen gehört werden, dass sie ihre eigene Geschichte erzählen können und damit die Macht haben, sich in Debatten einzubringen. Ihre Arbeit ist mutig, ehrlich und revolutionär. Es sollte mehr Jill Soloways geben.
Protokolliert von Dilay Avci und Gundula Haage