Wer liefert die schrecklichsten Gräueltaten?
Über Fehler in der Berichterstattung aus Syrien und dem Irak
Ihren Tiefpunkt erreichte die westliche Medienberichterstattung über die Kriege in Syrien und im Irak während der Offensive auf Ost-Aleppo. Im Juli 2016 nahm die Rückeroberung ihren Anfang und endete im Dezember, als syrische Regierungskräfte die letzten von Rebellen kontrollierten Gebiete einnahmen und über 100.000 Zivilisten evakuiert wurden. Fernsehsender und Zeitungen schienen während der fortwährenden Bombardierungen das Interesse daran zu verlieren, den Wahrheitsgehalt von Nachrichten zu prüfen.
Stattdessen lieferten sie sich einen Wettkampf darüber, wer über die schrecklichsten Gräueltaten berichten konnte, auch wenn es wenige Belege für deren Glaubhaftigkeit gab. So berief sich der Fernsehsender NBC News vage auf „arabische Medien“, als er berichtete, dass über vierzig Zivilisten von Regierungstruppen bei lebendigem Leibe verbrannt worden seien. Eine andere Geschichte, die in allen möglichen Zeitungen Schlagzeilen machte, besagte, dass sich an nur einem Morgen zwanzig Frauen aus Angst vor Vergewaltigungen durch die anrückenden Soldaten das Leben genommen hätten. Die Quelle dieser Nachricht war ein Satz des bekannten Aufständischen, Abdullah Othman, den die Nachrichten-Webseite The Daily Beast zitierte.
Die glaubhafteste dieser Gräuelgeschichten erlangte durch Rupert Colville, den Sprecher des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte, weltweite Medienbeachtung. Am 13. Dezember behauptete er, sein Büro habe zuverlässige Berichte darüber erhalten, dass 82 Zivilisten, darunter elf Frauen und 13 Kinder, von Regierungstruppen an mehreren Orten im Osten Aleppos getötet worden seien. Die Namen der Toten und die Orte wären bekannt. Weitere Nachforschungen des UNHCR im Januar ließen die Zahl der Getöteten, die über einen Zeitraum von mehreren Tagen hingerichtet worden waren, auf 85 steigen. Die Täter waren laut Colville jedoch keine syrischen Armeeangehörigen, sondern Kämpfer zweier Pro-Regierungs-Milizen, der irakischen Haraket al-Nujba und einer syrisch-palästinensischen Gruppe namens Liwaa al-Quds.
In allen Kriegen kommt es zu Falschmeldungen über Gräueltaten – wie auch zu Meldungen über tatsächlich geschehene. Im Fall Syriens hat die einseitige Berichterstattung und der Produktionsdruck die Nachrichtenszene allerdings in einer Weise dominiert, wie wir es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehen haben. Die Leichtigkeit, mit der sich Propaganda heute verbreiten lässt, wird oft der modernen Informationstechnologie angelastet: Smartphones, YouTube, Facebook und Twitter. Doch das entlässt die Mainstream-Medien nicht aus ihrer Verantwortung: Es ist wenig überraschend, dass in einem Bürgerkrieg alle Seiten ihr Möglichstes tun, die Verbrechen der anderen in die Öffentlichkeit zu bringen und zu übertreiben, während ähnliche Taten der eigenen Fraktion verleugnet oder verborgen werden. Im Fall Syriens besteht der wahre Grund für die unzureichende Berichterstattung über den syrischen Konflikt darin, dass die westlichen Medienorganisationen sie fast vollständig an die Rebellen outgesourct haben.
Spätestens seit 2013 war es für Journalisten zu gefährlich, in Rebellengebiete zu reisen, weil sie fürchten mussten, entführt, in Geiselhaft gehalten oder ermordet zu werden. Letzteres gewöhnlich durch Enthauptung. Journalisten, die dieses Risiko eingingen, zahlten einen hohen Preis: James Foley wurde im November 2012 verschleppt und im August 2014 durch den Islamischen Staat (IS) hingerichtet. Steven Sotloff wurde im August 2013 in Aleppo entführt und kurz nach Foley enthauptet. Trotzdem besteht nach wie vor ein enormes öffentliches Interesse daran, zu erfahren, was in diesen Gebieten geschieht.
Die Reaktion der Nachrichtenanbieter bestand fast ausnahmslos darin, ihre Berichterstattung an lokale Medien und politische Aktivisten zu delegieren, die inzwischen regelmäßig weltweit auf den Fernsehbildschirmen zu sehen sind. Es ist wenig glaubwürdig, dass es in Gegenden, in die sich aufgrund gefährlicher Gruppen kein Journalist mehr traut, neutralen Ortsansässigen möglich ist, frei zu berichten.
In Ost-Aleppo erteilten salafistisch-dschihadistische Gruppen, wie die al-Nusra-Front, Lizenzen für jede Art von Berichterstattung. Was denjenigen widerfuhr, die diese extremistischen Gruppen kritisierten, ihnen Widerstand leisteten oder einfach nur unabhängig handelten, macht ein im letzten Jahr unter dem Titel „Folter war meine Strafe“ veröffentlichter Bericht von Amnesty International deutlich: Ibrahim, der von al-Nusra-Kämpfern an den Handgelenken aufgehängt und geschlagen wurde, weil er ohne ihre Erlaubnis eine Gedenkveranstaltung für den Aufstand von 2011 abgehalten hatte, wird mit den Worten zitiert: „Ich habe von den Foltermethoden der Sicherheitskräfte der Regierung gehört und darüber gelesen. Ich dachte, ich wäre davor sicher, weil ich jetzt in einem von der Opposition gehaltenen Gebiet wohne. Ich habe mich geirrt. Ich war in den Händen der Jabhat al-Nusra den gleichen Foltertechniken ausgesetzt.“
Die Tatsache, dass Gruppen mit einer Verbindung zu al-Qaida ein Monopol auf die Versorgung mit Nachrichten aus Ost-Aleppo hatten, bedeutet nicht notgedrungen, dass die Meldungen über die verheerenden Auswirkungen von Bombardierung und Artilleriebeschuss falsch waren. Die Bilder von eingestürzten Gebäuden und mit Zementstaub bedeckten Menschen waren echt – aber auch selektiv. Es darf daran erinnert werden, dass sich nach Angaben der Vereinten Nationen zwischen 8.000 und 10.000 aufständische Kämpfer in Ost-Aleppo aufhielten – doch nahezu nirgendwo waren in den Aufnahmen, die das Fernsehen zeigte, bewaffnete Männer zu sehen. Westliche Sender sprachen von den Gruppen, die Ost-Aleppo verteidigten, als „Opposition“, ohne al-Qaida und ihre Verbündeten zu erwähnen. Es gab die unterschwellige Annahme, dass alle Einwohner Ost-Aleppos entschieden gegen Assad waren und die Aufständischen unterstützten.
Auffallend ist allerdings, dass nur ein Drittel derer, die Mitte Dezember evakuiert wurden, in das von Rebellen gehaltene Idlib wollten. Nur 36.000 Menschen wählten diese Richtung, während die Mehrheit, 80.000, in die von der Regierung gehaltenen Stadtteile im Westen Aleppos wollte. Das muss nicht daran liegen, dass sie erwarteten, von den Regierungsbehörden gut behandelt zu werden. Es zeigt nur, dass sie glaubten, ihr Leben wäre bei den Rebellen in größerer Gefahr. Im syrischen Bürgerkrieg bleibt oft nur die Entscheidung zwischen schlecht und noch schlechter.
Die einseitige Berichterstattung präsentierte die Offensive auf Ost-Aleppo als Kampf zwischen Gut und Böse, als „Der Herr der Ringe“ mit Assad und Putin in den Rollen von Saruman und Sauron. Indem sie die Kontrolle der Nachrichten militanten Kräften überließen, schufen Nachrichtenorganisationen diesen unwissentlich Anreize: dafür, jeden unabhängigen Journalisten, ob Syrer oder Nicht-Syrer, der möglicherweise ihre Darstellungen in Zweifel zöge, durch Einschüchterung, Entführung und Ermordung zum Schweigen zu bringen. Ausländische Politiker und internationale Medien haben ein Gemetzel im Ausmaß der schlimmsten Nachkriegsmassaker vorausgesehen. Doch schändlicherweise verloren sie nach dem Ende der Kämpfe vollständig das Interesse an Ost-Aleppo, auch daran, herauszufinden, welche der Untaten, die sie verurteilt hatten, tatsächlich begangen worden waren. Und schlimmer noch: Die Darstellung der Rückeroberung Ost-Aleppos als große humanitäre Tragödie des Jahres 2016 lenkte von einer noch größeren Tragödie ab, die sich 300 Meilen östlich, im Norden des Irak, abzeichnete: der Offensive auf Mossul.
Es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen den Offensiven auf Mossul und Ost-Aleppo, doch wurde darüber sehr verschieden berichtet. Wenn in Mossul Zivilisten bei dem US-geführten Bombardement starben oder ihre Häuser zerstört wurden, dann war der IS für ihren Tod verantwortlich: Die Zivilisten wurden als menschliche Schutzschilde missbraucht. Wenn dagegen russische oder syrische Einheiten Gebäude im Osten Aleppos angriffen, machte man sie für die Opfer verantwortlich: Die Rebellen hatten nichts damit zu tun. Herzzerreißende Bilder von Toten, Verwundeten und paralysierten Kindern aus dem Osten Aleppos wurden in die ganze Welt gesendet. Das Video aber, das am 12. Januar im Internet auftauchte und Menschen zeigt, die in den Ruinen eines Gebäudes in Mossul nach Leichen suchen, das offenbar von der US-geführten Koalition bei einem Luftangriff zerstört worden war, wurde von keinem westlichen Fernsehsender verbreitet. „Wir haben schon 14 Leichen gefunden“, sagt ein verstört aussehender Mann in die Kamera, „und es sind noch neun weitere unter den Trümmern.“
Aus dem Englischen von Karola Klatt