Was wir von der Welt sehen
Längst legen Algorithmen fest, welche Inhalte beim einzelnen Nutzer ankommen. Welche Folgen hat das?
Zu konstatieren, dass wir in interessanten Zeiten leben, wäre untertrieben; man denke nur an den Arabischen Frühling, die US-Wahlen von 2016, den endlosen Krieg gegen den Terror oder an die Normalisierung von Hassreden. Und sehr häufig wird das Internet als eine Ursache – wenn nicht Hauptursache – dieser Erschütterungen genannt. Es wurde beschuldigt und bejubelt dafür, das Ende der Massenmedien eingeläutet zu haben, die Demokratie zu zerstören oder zu fördern, und noch nie da gewesene Überwachung und Freiheit zu ermöglichen. Man gab dem Internet auch die Schuld an der Zunahme der Fake News und des politischen Extremismus. Wie also können wir diesen Widerspruch verstehen oder auflösen? Ist das Internet gut oder schlecht? Befördert oder unterminiert es das öffentliche Leben?
Will man den Einfluss der Neuen Medien auf die heutige Gesellschaft verstehen, muss man sich zunächst von dieser Fragestellung lösen. Das Internet ist kein monolithischer Block, und wenn man es als grundsätzlich gut oder schlecht auffasst, reduziert man unsere politischen Probleme auf die rein technologischen – als ob der Technologie und nicht der Politik die Hauptschuld an unseren Konflikten zukomme. Außerdem ignoriert man so die Geschichte der Medien und ihres schwierigen Verhältnisses zu rationalen, kritischen Debatten. Als im 18. Jahrhundert die Aufklärung begann, wurde sogleich vor ihren Gefahren gewarnt. Zeitungen haben von jeher Propaganda und Klatsch verbreitet. Um dies klarzustellen: Damit soll nicht gesagt werden, dass eine freie Presse nicht eine der zentralen Säulen der Demokratie sei. Ebenso sollen hier nicht sämtliche Medien in einen Topf geworfen werden. Es muss jedoch gesagt werden, dass wir uns, um unsere derzeitige Situation zu verstehen, mit den tiefgreifenden Widersprüchen auseinandersetzen müssen, die alle Medien durchziehen.
Die Karriere des Internets als Massenmedium, das alle anderen Massenmedien verdrängen könnte, begann Mitte bis Ende der 1990er-Jahre, als das Basisnetz privatisiert wurde. Zuvor war es Eigentum der US-Regierung gewesen, die es auch entwickelt hatte. Damals wurde es als „Cyberspace“ verkauft – ein Konzept wie aus der Science-Fiction, ein dem Geist vorbehaltener Raum, der den physischen Raum transzendiert und die Redefreiheit wiederherstellt. Die US-Judikative war der Auffassung, das Internet sei ein Mittel gegen die Schattenseiten der Massenmedien, indem es allen Bürgern – nicht nur den reichen oder einflussreichen – die Möglichkeit gebe, sich zu äußern.
Diese Freiheit fußte wesentlich auf der Anonymität, ein Faktum, das der berühmte New Yorker-Cartoon von Peter Steiner treffend illustriert: In der Zeichnung sitzt ein Hund am Computer und sagt zu einem anderen Hund: „Im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist.“ Diese Sichtweise steht der derzeitigen Sicht auf das Internet diametral entgegen. Tinder und Snapchat, neben vielen anderen Plattformen der sozialen Medien, legen Wert auf den Gebrauch von Klarnamen und auf nachvollziehbare Freundschaftsverbindungen. In den neuen Medien geht es um DICH und darum, zu wissen, wer du bist. Außerdem – das haben Edward Snowdens Enthüllungen gezeigt – ist das Internet alles andere als anonym. Was hat sich also geändert?
Obgleich sich die Technologie verändert hat und weiterhin in stetigem Wandel ist, ist das Internetprotokoll, das den Austausch zwischen den im Internet miteinander vernetzten Computern regelt, unverändert geblieben. Das einzig Überraschende an Snowdens Enthüllungen ist insofern auch, dass sie überhaupt als Enthüllungen gewertet wurden. Mindestens zehn Jahre vor Snowden gab es Berichte, denen zufolge die US-Regierung Daten aus dem Basisnetz heruntergeladen hatte. Das Gesetz, das der US-Regierung erlaubt, ohne richterlichen Beschluss auf Metadaten, also Daten, die Informationen über Merkmale anderer Daten enthalten, zuzugreifen, stammt aus dem Jahr 1979. Des Weiteren scheint die Auffassung, das Internet ermögliche anonyme oder sichere Kommunikation, im Widerspruch zu seiner technischen Funktionsweise zu stehen.
Ich weise bereits seit Jahren darauf hin, dass Netzwerke funktionieren, indem sie Informationen durchsickern lassen. Ihre Netzkarte beispielsweise liest erst alle Daten ein und löscht dann aktiv alles, was nicht an Sie adressiert ist. Sie verhält sich die ganze Zeit promiskuitiv. Sie laden andauernd den Datenverkehr Ihres Nachbarn herunter. Um online zu sein, müssen Sie offen sein und bis zu einem bestimmten Grad verwundbar. Aber warum sollte man dies zur Sprache bringen, wenn es nicht darum geht, einem technologischen Determinismus zu frönen? Nun, einerseits hilft es uns, der Debatte über Privatheit einen neuen Rahmen zu geben, um dadurch einer Debatte über öffentliche Rechte den Weg zu ebnen, außerdem zeigt es, dass wir, wenn wir die Auswirkungen dieser Medien verstehen wollen, unter die oberflächlichen Inhalte schauen müssen, wo die Verbindungen und Algorithmen liegen, die sie verwenden und implementieren – Verbindungen und Algorithmen, die selbst ihrem Wesen nach politisch sind.
Schauen wir uns in diesem Licht einmal die Auseinandersetzung über Fake News und Donald Trumps Angriffe auf die freie Presse an. In Reaktion auf diese Behauptungen und auf den Aufschwung „alternativer Fakten“ haben Nachrichtenquellen wie die New York Times sich Mottos zu eigen gemacht wie „Die Wahrheit. Sie hat keine Alternative.“ Wo in dieser Schlacht die Linien verlaufen, ist aber nicht so klar, wie es scheinen mag, denn Trump hat möglicherweise eigenhändig die Mainstream-Medien gerettet. Die „angeschlagene“ New York Times erlebte nach der Wahl einen noch nie da gewesenen Anstieg bei ihren digitalen Abonnements – und je mehr Trump auf der angeblich schlechten finanziellen Lage der Zeitung herumreitet, desto besser wird sie. Die Zuschauerzahlen von CNN stieg in der gleichen Zeit um fünfzig Prozent. Die Trolle zu füttern, ist gut fürs Geschäft.
Und mehr noch – Webseiten wie die digitale Version der New York Times spielen eine Rolle bei der Ausbreitung von Online-„Echokammern“, die dabei helfen, Fake News zu verbreiten. Meine New York Times-Seite – wie meine Google-Suchergebnisse – ist auf mich persönlich zugeschnitten. Jede unserer Bewegungen wird verfolgt, sowohl innerhalb der Seiten durch Mauszeigerverfolgung (es ist gefährlich, zu lange mit dem Mauszeiger auf irgendeinem Seitenelement zu verweilen) als auch zwischen einzelnen Webseiten durch Supercookies. Deshalb werden uns individuell völlig unterschiedliche Bücher und Filme empfohlen und wir bekommen unterschiedliche Werbeanzeigen zu sehen. Noch wichtiger und heimtückischer als diese persönliche Verfolgung ist jedoch die Art, in der wir in „Nachbarschaften“ einsortiert werden, basierend auf unseren starken Abneigungen und Vorlieben. Netzwerk-Algorithmen funktionieren nach dem Prinzip der „Homophilie“: dem Grundsatz, dass Gleich und Gleich einander anziehen, dass Ähnlichkeit Verbindungen schafft.
Durch Homophilie werden Internetnutzer in Nachbarschaften von Menschen einsortiert, die „wie sie selbst“ sind, und die Aktionen unserer virtuellen Nachbarn spielen eine Schlüsselrolle bei der Auswahl der Inhalte, die uns präsentiert werden, und der Art, wie wir an die Hand genommen, verfolgt und umschmeichelt werden. So ist es zum Beispiel sehr einfach, Rückschlüsse auf unsere sexuelle Orientierung und unsere politische Einstellung zu ziehen, basierend auf den Aktionen derer, die uns auf Twitter folgen – besonders, wenn wir ihnen unsererseits folgen. Die Polizei von Chicago erstellte eine Liste von Menschen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Morden zum Opfer fallen oder selbst zu Mördern werden könnten, indem sie soziale Netzwerke analysierte. Dann besuchten Polizeibeamte diese Menschen, um sie vor ihrem drohenden Schicksal zu warnen. Die Schlüsselerkenntnis hier ist die, dass diese Netzwerke nicht einfach die Realität abbilden, sondern sie beeinflussen.
Die Liste der potenziellen Mörder und Mordopfer beispielsweise führte nicht zu einem Rückgang der Mordzahlen, aber die Wahrscheinlichkeit für die Menschen auf der Liste, wegen eines Verbrechens verhaftet zu werden, stieg um 2,88 Prozent. Es wurde auch berichtet, dass ihre Wahrscheinlichkeit, ermordet zu werden, anstieg, weil ihre Nachbarn die Besuche der Polizei als ein Anzeichen werteten, dass sie zu Spitzeln geworden seien. Unsere digitalen „Nachbarn“ sorgen dafür, dass wir nie schweigen, selbst wenn wir es tun. Wir sind nicht mehr eine schweigende, vielleicht undurchdringliche Masse, sondern eine unentwegt plappernde, auf monströse Art miteinander verwachsene Schimäre.
Um diese Situation zu ändern, müssen wir die Analyse von Inhalten hinter uns lassen und unsere Netzwerkalgorithmen und -aktionen neu überdenken. Und dies wiederum nicht etwa deshalb, weil unsere Probleme technologischer Natur wären, sondern weil unsere Technologien in sich politisch und sozial sind. Das Grundprinzip der Homophilie etwa hat tiefe Wurzeln in der Rassentrennung in den USA. Wir sollten uns weigern, diese erstickende Trennung zu akzeptieren, und die vielen unterschiedlichen Arten erforschen, auf die wir Verbindungen herstellen und lösen, von den Gegensätzen, die sich anziehen, bis hin zu wohlwollender Gleichgültigkeit!
Aus dem Englischen von Caroline Härdter