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Was ich wert bin

Wie ein geflohener türkischer Journalist aus den USA über seine Heimat berichtet

Ich bin einer der 92 meistgesuchten Journalisten der Türkei und lebe heute im Exil in den USA. Die türkische Regierung hat 1,5 Millionen Türkische Lira, umgerechnet 383.000 Euro, auf meinen Kopf ausgesetzt. Ich habe die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Präsident Recep Tayyip Erdoğan lange unterstützt. Ich dachte, die Partei würde das Militär in die Schranken weisen und das System reformieren. Ich habe gehofft, die AKP würde der Türkei echte Demokratie bringen. Als Erdoğan 2011 die absolute Mehrheit errang und ihm kein laizistisches Militär mehr im Weg stand, offenbarte sich mir das wahre Gesicht der Islamisten.

Ich bin mir nicht sicher, ob es von Anfang an die Intention der Islamisten war, freiheitliche Werte abzuschaffen und die Türkei in eine „Zombie-Demokratie“ zu verwandeln, in der sogenannte demokratische Ins-titutionen zwar existieren, doch kein liberaler Geist mehr herrscht, oder ob es unvorhersehbare Umstände waren, die sie zwangen, diesen Weg einzuschlagen. Wie auch immer, in türkischen Gefängnissen sitzen heute mehr als 40.000 gebildete Menschen: Wissenschaftler, Journalisten, Intellektuelle, Schriftsteller, Lehrer, Ärzte. Die Universitäten sind zu Zentren der Ignoranz verkommen. Regierungstreue Medien wie Sabah, Star TV, Akşam, Milliyet oder ATV sind die Kampfhunde des Regimes.

Erdoğan glaubt, die Massenmedien würden von ausländischen Kräften gesteuert, von gottlosen Linken und Aleviten geführt und wären deshalb gegen die Interessen der Türkei gerichtet. Für ihn sind die Medien voreingenommen, nicht nur gegen seine Person und die Regierung, sondern auch gegen konservative Werte und Gesellschaftskreise. Deshalb hält er es für notwendig, oppositionelle Medien zu unterdrücken und durch regierungstreue zu ersetzen.

Im Länderbericht zur Lage der Pressefreiheit in der Türkei warnt die Bürgerrechtsorganisation Freedom House: „Die Medienfreiheit in der Türkei verschlechterte sich im Jahr 2015 alarmierend.“ Aggressiv setze die alleinregierende AKP Strafgesetz, strafrechtliche Vorschriften über Verleumdung und das Antiterrorismusgesetz des Landes ein, um kritische Berichterstattung zu bestrafen. Nach Angaben des Stockholm Center for Freedom sind Ende Januar 2017 „191 Journalisten im Gefängnis, nach 92 wird gefahndet, 839 stehen unter Anklage“.

Man muss sehen, dass die Rolle der türkischen Massenmedien immer fragwürdig war. Viele Medien ziehen es vor, den Staat und das Militär zu stützen, so wie die Redakteure und der Herausgeber der größten Zeitung Hürriyet. Ihr Interesse an Wirtschaft und Gesellschaft war nie besonders ausgeprägt, ihr journalistisches Engagement auch nicht.

Vor 2011 konnten sich durch die EU-Reformen liberale, kurdische und alevitische Medien, wie die Tageszeitungen Taraf, Özgür Gündem und BirGün, für kurze Zeit entfalten. Doch mit der Festigung seiner Macht ließ Erdoğan die liberalen und kurdischen Medien schließen und machte die Massenmedien zu seinen Unterstützern.

Als ich im Juli 2011 erkannte, dass es mit der AKP keine Demokratie geben würde, schrieb ich eine Kolumne in der liberalen Zeitung Taraf. Ich erklärte, die Partei nicht weiter unterstützen zu wollen. Zuerst starteten von der AKP bezahlte Internet-Trolle eine Schmutzkampagne gegen mich, dann überzogen mich AKP-Funktionäre, besonders auch Premierminister Erdoğan, mit Dutzenden von Beleidigungsklagen. In mir wuchs der Wille, den Islamisten zu trotzen, und ich ließ in meiner Kritik an der Partei nicht nach. Im September 2013 stand ich vor meinen Studenten an der Yeditepe Universität in Istanbul, wo ich Politik und Islamwissenschaft lehrte, als die Universitätsverwaltung anrief: Der Ministerpräsident hatte seine Handlanger zu meiner Universität gesandt, um mich feuern zu lassen. Kurze Zeit später erfuhr ich, dass Erdoğan angeordnet hatte, mich zu verhaften. Was seine Wut ins Unermessliche gesteigert hatte, war meine Enthüllung der illegalen Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an Dschihadisten in Syrien.

Viele meinen, in einem Land wie der Türkei müsse Journalismus ein schwerer Job sein, weil man nur schwer an Informationen komme. Das Gegenteil ist der Fall: In einem Land mit einer gespaltenen Gesellschaft und zwei politischen Lagern ist es für Journalisten ein Leichtes, Informanten zu finden. Informanten haben viele Gründe, ihr Material an einen Journalisten weiterzugeben, von dem sie annehmen, dass er die Geschichte publizieren wird.

Schwer wiegt nur das Risiko, das man eingeht, die erhaltenen Informationen zu veröffentlichen. Als der türkische Geheimdienst begann, Waffen nach Syrien zu schmuggeln, wussten neben den Schmugglern selbst auch nahezu alle lokalen Beamten davon. Schwierig war für mich also nicht die Recherche zu den Waffenlieferungen, sondern die Gewissheit, dass man mich nach der Veröffentlichung der Geschichte irgendwann verhaften würde. Ein alter Freund, der bei der Polizei arbeitete, warnte mich: „In den Augen des Geheimdienstes und Erdoğans hast du Hochverrat begangen. Sie haben eine Fatwa, die erlaubt, Hochverräter zu töten. Glaubst du, du wirst lebend aus dem Gefängnis herauskommen?“

In diesem Moment entschied ich mich, das Land zu verlassen. Schon am Tag darauf, am 1. März 2014, floh ich nach Brüssel und ließ meine Frau und die Kinder zurück. Ich verbrachte einen Monat in Europa, suchte nach einer Arbeit und hoffte, dass Erdoğan bei den Kommunalwahlen Ende März Verluste erleiden würde und ich in die Türkei zurückkehren könnte. Doch er gewann und in seiner Siegesrede brandmarkte er mich als Landesverräter, den es zu verfolgen gelte.

Obwohl die Polizei wusste, dass ich mich im europäischen Ausland aufhielt, schickten sie Anti-Terrorpolizisten zu meiner 75-jährigen Mutter in ein abgelegenes Bergdorf, 120 Kilometer vom Stadtzentrum Malatyas entfernt, und befragten sie. Um meine Frau und meine Kinder, die zu dieser Zeit noch in der Türkei waren, wurde es schrecklich einsam, denn meine Geschichte wurde zur Titelstory der regierungstreuen Medien und Freunde, Lehrer und Nachbarn trauten sich nicht mehr, mit ihnen zu sprechen.

Als „Hochverräter, der sich aus der Türkei abgesetzt hatte“ fühlte ich mich in Europa nicht mehr sicher. Erdoğan hat viele Gehilfen, die auf seinen Wunsch hin zu Mördern werden. Am 9. Januar 2013 waren in Paris bei einer Operation des türkischen Geheimdienstes drei kurdische Aktivistinnen erschossen worden.

Ich ging in die USA und fand eine Anstellung als Dozent an einem kleinen College in Virginia. Seither hat sich die Situation in der Türkei weiter verschlechtert. Erdoğans Agenten haben mich auch in den USA ausspioniert. Bilder von mir und meiner Familie wurden in Zeitungen und im Fernsehen veröffentlicht. Fast täglich erhalte ich Morddrohungen.

Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurden die Zeitungen Today’s Zaman und Taraf geschlossen, meine Kollegen inhaftiert und meine Kommunikationskanäle in die Türkei gekappt. Mein Bruder kam in Haft – nur weil er mein Bruder war. Menschen wurden für Monate weggeschlossen und der einzige „Beweis“ gegen sie war, dass sie kritische Tweets wie meine verbreitet hatten.

Seit der Schließung der Zeitungen, für die ich gearbeitet habe, publiziere ich auf meiner eigenen Webseite yeniyon.com, die in der Türkei ständig gesperrt wird. Um die Verbote zu umgehen und meine Leser zu erreichen, ändere ich fortwährend den Domainnamen. Bis heute wurden acht verschiedene Domains von mir gesperrt.

Gegenwärtig verändert sich der Journalismus in der Türkei hin zu einem Bürger-und-Aktivisten-Journalismus. Arbeitslose Journalisten posten Kommentare, erzählen Storys von öffentlichem Interesse und sammeln Informationen von so vielen Quellen wie möglich. Über soziale Netzwerke senden uns Leser Dokumente und Informationen, weil sie wissen, dass wir publizieren, was andere Medien sich nicht trauen.

Für Journalisten im Exil ist das Erreichen ihrer Leserschaft ein Katz-und-Maus-Spiel. Wenn der Staat den Zugang zu unseren Webseiten untersagt, wechseln wir zu neuen Domains. Manche Leser wissen, wie man virtuelle private Netzwerke, sogenannte VPNs nutzt, um auch verbotene Webseiten anzuschauen, doch das können längst nicht alle. Um auch einfache Leser zu erreichen und beeinflussen zu können, müssen wir Wege finden, die Sperren zu umgehen.

Trotz all dieser Widrigkeiten kann ich mich glücklich schätzen. Ich habe eine anständige Arbeit gefunden, die meinen Lebensunterhalt sichert. Weniger glückliche Freunde versuchen, sich als Uber-Fahrer, Verkäufer oder Pizzaboten über Wasser zu halten. Viele Journalisten, die ins Exil gingen, werden durch ihre ökonomische Situation zum Schweigen gebracht.

In diesen trüben Tagen ziehen meine Journalistenfreunde und ich aus der Gewissheit Hoffnung, dass am Ende die Wahrheit über die schmutzigen Lügen, mit denen Diktatoren ihre Macht erhalten, siegen wird. Was von Diktatoren übrig bleibt, sind die Storys, die Journalisten erzählen.

Aus dem Englischen von Karola Klatt