Send: Briefe über Europa

Was soll bloß aus Europa werden? Ein Briefwechsel zwischen Annika Reich und Zeruya Shalev über Radikalisierung, Nationalismus und die bröckelnde Vision eines europäischen Kulturraums

Liebe Zeruya,

als ich mich heute Morgen hinsetzte, um mit diesem Brief zu beginnen, hat mich mein erster Impuls erst einmal verstört. Ich wollte Dir plötzlich einen Kuchen backen. Doch je länger ich darüber nachdenke, desto mehr überzeugt mich die Idee: Das Kuchenbacken lädt dich zu mir ein, es gibt unserer Abwesenheit einen Körper.

Es soll um die Fragilität Europas gehen. Der fragilste Kuchen, der mir eingefallen ist, ist der Baumkuchen. Er wird in dünnen Schichten gebacken und man muss ständig zum Ofen rennen, damit sie nicht verbrennen.

Europa ist jetzt, da es sich verschließt, eine offene Frage. Mir wird jetzt erst bewusst, wie viel ich in die Idee Europa hineingelegt habe. Europa war anscheinend doch ein einigermaßen denkbarer Heimatgedanke für mich, obwohl ich von dem Konzept „Heimat“ nichts halte und mir bei den Gedanken an Europa als Heimat schon immer zu viele Gorillas im Raum saßen: Kriege, Kolonialismus, der Umgang mit Roma und Sinti.

Und jetzt? Wählen Teile Europas so rechts, dass man nur noch den Atem anhalten kann. Jetzt werden Stacheldrahtzäune hochgezogen und es wird mit Tränengas auf Menschen geschossen. In Deutschland brennt ein Flüchtlingsheim nach dem anderen. Neue Asylgesetze werden verabschiedet, die alles nur noch schlimmer machen, und es werden Staaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt, die es nicht sind. Im Mittelmeer sterben Tausende Menschen.

Ich werde nur von diesem Punkt aus schreiben können, also aus dem Zusammenbruch heraus, der die Festung Europa für mich persönlich bedeutet. Ich hoffe, ich mute Dir mit einem ersten Brief damit nicht zu viel zu.

Momentan schreibe ich nicht mehr, ich arbeite nicht mehr, ich kann nicht einmal mehr U-Bahn fahren. Ich habe ein dreiviertel Jahr mit Menschen gearbeitet, die nach Berlin geflohen sind. Nachrichten sind seither keine Nachrichten mehr. Wenn ich Bilder aus Idomeni oder von der türkischen Grenze sehe, dann sehe ich Kinder, die ich kenne. Bis letzten Sommer ist mir der Krieg nur nahegegangen, aber noch nie nahegekommen. Es kommt mir inzwischen so unwahrscheinlich vor, dass man 43 Jahre alt werden kann, ohne mit dieser Seite des Lebens konfrontiert gewesen zu sein, aber es war so. Jetzt ist es anders.

Ich bin seit Monaten müde. Ich habe mir diese Welt jetzt ein paar Monate ungefiltert angeschaut und versucht, offen zu bleiben. Das war zu viel. Gleichzeitig hat Europa diese gefolterten, vertriebenen Menschen durch einen Menschenhandel mit der Türkei ausgeschlossen. Europa, das immer so viel Wert auf Solidarität und den Einzelnen gelegt, das die Durchlässigkeit seiner Grenzen gefeiert hat, hat dicht gemacht. Jetzt geht es überall um Radikalisierung und Renationalisierung – als wäre die Vision von Europa ein Missverständnis gewesen.

Kennst Du Julia Kristevas Essay, in dem sie Europa als Patientin auf die Couch legt? Kristeva schreibt, dass die europäische Fähigkeit, dem Einzelnen einen besonderen Wert beizumessen, ein Schutzdamm gegen Nivellierung und Banalisierung darstellt. Genau dieser Schutzdamm ist gebrochen in den letzten Monaten. Kristeva schreibt, dass Wanderschaft, Erkenntnis, Respekt vor dem Singulären, Zweifel und Befragung das Fundament der europäischen Kultur bilden. Und jetzt? Jetzt denkt Europa die Menschen, die hierher fliehen, nicht als Einzelne, sondern als Masse. Und ich weiß nicht, was Europa sein soll, wenn es genau jetzt seine Ideale verrät.

Ich muss aufstehen und die dritte Schicht Teig auf der zweiten verstreichen. Es duftet für Dich, Zeruya, nach Zitronen und Zucker. Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob Du Marzipan magst und was Europa für Dich ist. Aber bald ist der Kuchen fertig und bald werde ich einen Brief von Dir bekommen.

Herzlich, Annika


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Liebe Annika,

bitte entschuldige meine späte Antwort auf Deinen Brief. Ich bekenne, dass ich es seit jeher vorgezogen habe, Briefe zu erhalten, als sie zu beantworten. Doch nicht deshalb habe ich so lange gebraucht, um Dir zu antworten, sondern wegen der Umzugskartons. Ich packte Tag für Tag mein Leben in Dutzende von Umzugskartons, sortierte, warf weg, entfernte, ordnete – Bücher, Briefe, Bilder, Kleider, Spielsachen, Möbel, Geschirr und andere Gegenstände, verschiedene und seltsame, die sogar schriftlich schwer zu ordnen sind. Langsam leerte sich das Haus und füllten sich die Umzugskartons.

Stell Dir vor, die erste Wohnung, die wir besichtigten, verzauberte mich, und von dort aus schreibe ich Dir jetzt. Auf dem Carmelberg, mit Blick über das Meer und die Wipfel alter Kiefern. Schau, Du schreibst über die Flüchtlinge und ich erzähle Dir von einem Umzug aus einer Stadt in die andere, in meinem Land.

Du schreibst über die Flüchtlinge und ich lese Deinen Brief und weine. Was für ein Schmerz. Was für eine Katastrophe. Das Land, die Stadt, die Wohnung, die Sprache, die Verwandten, den Besitz, eine ganze Welt zu verlieren und in ein fremdes Land zu fliehen.

Ich glaube fest an die weibliche Kraft. Im letzten Sommer schloss ich mich einer Organisation an, die sich „Frauen machen Frieden“ nennt, die sich bemüht, das Verbindende zwischen uns und den Palästinensern herauszufinden. Ich denke, dass Frauen das gut können. Es ist so leicht, über die Gräben und Komplikationen zu sprechen, aber wenn wir uns darauf konzentrieren, was uns verbindet, erwächst auf einmal Hoffnung. Und Nähe. Doch kurze Zeit danach kam es zu Messerattentaten, und wieder verletzte die Realität unsere Hoffnung. Immer wird es, bei uns und auch bei euch, lautstarke Extremisten und Schwarzseher geben, und manchmal wird es ihnen gelingen, die Politiker zu beeinflussen, und immer liegt es daran, dass man die Individualität ignoriert, an kollektivem Hass und kollektiver Angst. Ich verstehe die Angst vor dem extremistischen Islam, mir geht es ebenso. Doch wie kann man diese Angst auf den Islam im Allgemeinen und die muslimischen Flüchtlinge übertragen? Das ist so grausam.

Und Annika, meine Liebe, bitte verallgemeinere nicht, was Europa betrifft! Versuche, Europa nicht als hartherziges Ganzes zu sehen. Europa bist Du schließlich auch. So wie ich Deinen Schmerz über Europa nachfühlen konnte, konnte ich den Kuchen riechen, den Du für mich gebacken hast. Danke!

Ich sah Europa zum ersten Mal, als ich relativ erwachsen war. Ich war 26, als ich zum ersten Mal die Grenzen meines Landes, das mit Terroranschlägen und Kriegen geplagt ist, hinter mir ließ. Doch in all den Jahren hatte ich Europa durch Bücher und Filme und Bilder besucht – Schnee fällt auf kleine Städte mit einem Fluss und einer Kirche und Waldbeeren, und auf große, prachtvolle Städte mit schönen Cafés und duftenden Kuchen, und doch war, wie könnte es anders sein, Europa zugleich Gefahr und Leid und Tod – denn wie diese Flüchtlinge, denen Du hilfst, waren viele Menschen meines Volkes vertrieben und herausgerissen worden und geflohen, wenn es ihnen überhaupt gelang, sich zu retten.

Sie waren nach Israel gekommen, und ein Teil von ihnen hörte nicht auf, sich trotz allem nach Europa zu sehnen. Seit Jahrzehnten reise ich durch Europa, meinen Büchern hinterher. Doch ich erinnere mich die ganze Zeit daran, dass ich nur eine Besucherin bin. Schon viele Jahre begleitet mich dieses absurde Gefühl, dass ich mich in Europa sicherer fühle als in meinem eigenen Land, das dazu gegründet worden war, den aus Europa geflohenen Juden Schutz zu bieten. Doch in der letzten Zeit tut mir Europa, dessen Ruhe ins Wanken geraten ist, so leid, als geschähe es hier, bei uns. Es erschüttert mich sogar noch mehr, denn hier gibt es schon keine Illusionen mehr, während in Europa jedes Attentat die Illusion mehr und mehr zerstört. Und plötzlich habe ich auch in Europa Angst – ich denke manchmal, wie lächerlich das wäre, wenn mich der Terror ausgerechnet dort noch einmal treffen würde.

In meiner neuen Stadt, in Haifa, findet sich Hoffnung. Sie ist die toleranteste Stadt Israels, in ihr leben Juden und Araber gleichberechtigt und spannungsfrei. Mir macht es Spaß, einen arabischen Werkstattbesitzer mit jüdischen Arbeitern zu sehen. In Jerusalem war es immer umgekehrt. Vielleicht ist es seltsam, aber ich möchte Dir etwas Hoffnung schicken, ausgerechnet von hier, aus einem Land, in dem es so sehr an Hoffnung fehlt, aber selbst wenn die allgemeine Situation so düster aussieht, ist da und dort Licht zu entdecken.

Deine Zeruya

Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler