Nie wieder Terror

Während nordafrikanische Staaten wie Marokko, Tunesien und Ägypten längst Rekrutierungszentren des IS sind, scheint Algerien gegen die Radikalisierung immun zu sein. Wie kommt das?

Tausende Menschen sind in den vergangenen Jahren zum Islamischen Staat (IS) übergelaufen. Oft kommen die neuen Rekruten des Kalifats aus der direkten Nachbarschaft Syriens. Aus Jordanien waren es laut International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence (ICSR) etwa 2.400 Menschen, aus dem Libanon knapp 900. Die meisten Unterstützer findet der IS jedoch in Nordafrika. Bis zu 6.500 Kämpfer der Terrororganisation kommen aus Tunesien – und auch aus Libyen, Ägypten und selbst dem fernen Marokko stoßen immer mehr selbst ernannte Dschihadisten dazu. Nur ein Land sucht man in der Aufzählung vergeblich: Algerien.

Natürlich laufen auch von hier vereinzelt Menschen zum IS über. Es sind die üblichen Verdächtigen: Drogendealer, die bisher nur durch Bagatelldelikte auffielen, abgehängte Jugendliche, die von teuren Autos und schönen Frauen träumen, bis sie sich, angetrieben vom eigenen Ego, einer wirklich ruhmreichen Sache verschreiben wollen, zum Islam konvertieren, sich radikalisieren und zur Waffe greifen. Meist sind es Franko-Algerier, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen und sich somit einfach über Europa in die Türkei und von dort aus nach Syrien absetzen können.

Mehr als ein paar verirrte Individuen konnte der IS in Algerien bislang allerdings nicht für sich gewinnen. Ein breites Rekrutierungsnetzwerk wie in Ägypten und Tunesien gibt es hier nicht. Dabei böte das flächenmäßig größte afrikanischen Land mit seinen 40 Millionen Einwohnern ein wertvolles Nachschubbecken für den IS. Warum kann er in Algerien also nicht Fuß fassen? Die Antwort ist einfach: Das Land hat den Terror schon erlebt. 1991 stürzte Algerien in einen blutigen Bürgerkrieg, den 150.000 Menschen mit dem Tod bezahlten. In dem Konflikt zwischen Regierungstruppen und islamistischen Gruppierungen wie der Islamischen Heilsarmee und der Groupe Islamique Armé (GIA) wurde die algerische Bevölkerung über Jahre hinweg zerrieben. Algerierinnen und Algerier erfuhren, was es hieß, vom Terror regiert zu werden, was es bedeutete, wenn Fatwas gegen alle ausgesprochen wurden, die ihr politisches Mitspracherecht nicht aufgeben wollten, wie es sich lebte, wenn täglich Menschen im Kugelhagel starben.

Die Kämpfer der radikalislamistischen Bewegung GIA erklärten den Sicherheitsdiensten, der Polizei und dem Militär den Krieg – und gingen später zur „ethischen“ Säuberung der Zivilbevölkerung über. Akademiker, Gewerkschafter und andere Intellektuelle wurden erschossen – allein im September 1996 schnitt man zwölf Lehrerinnen im ostalgerischen Sfisef die Kehle durch. Auch Journalisten, wie Tahar Djaout, und Künstler, Dramaturgen, Schauspieler und Musiker, wie etwa Cheb Hasni, fielen Attentaten zum Opfer oder wurden hingerichtet. Später kamen die großen Massaker dazu, etwa in Bentalha, einem Vorort von Algier, wo Hunderte starben, oder in Had Chekala und Ramka, wo es eher tausend waren. Jeder, der nicht spurte, starb – und zwar im Namen des Islam, der Religion des Friedens und der Toleranz. Was für eine Tragödie, was für eine Lehrstunde.

Auf eine schreckliche und gleichzeitig heilsame Art und Weise wirken die Erinnerungen an die Gräueltaten des Bürgerkriegs nun wie ein Impfstoff gegen die dschihadistische Propaganda des IS. Die unaussprechliche Gewalt, die das selbst proklamierte Kalifat heute laut eigenem Bekunden in alle Welt tragen will, imponiert den Algeriern nicht. Der Nährboden, auf den die radikale Ideologie des IS in Marokko und Tunesien fällt, ist in Algerien längst ausgetrocknet.

Dazu kommen zwei weitere Faktoren: Zum einen trug das sogenannte „Gesetz der zivilen Eintracht“ nach dem Ende des Bürgerkriegs dazu bei, ehemalige Islamisten wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Laut politischem Beschluss erhielten ehemalige Kämpfer islamistischer Gruppieriungen, die keine direkten Gewaltverbrechen verübt hatten, Straffreiheit und wurden wieder in die Gesellschaft integriert. Es sind gerade die Beispiele dieser Begnadigten, die junge dschihadistische „Desperados“ heute davon abhalten, den Islamisten des IS in die Arme zu laufen. Zum anderen ist der algerische Geheimdienst erprobt im Kampf gegen den Terror. Durch die jahrelange Auseinandersetzung mit der al-Qaida des Islamischen Maghreb (AQMI) verfügt man über einen großen Erfahrungsschatz.

Und trotzdem gilt es, stets wachsam zu bleiben. Denn selbst wenn es wenige Algerier sind, die im Ausland im Namen des Terrors ihr Unwesen treiben: Die Gefahr, die von radikalisierten Rückkehrern aus Syrien und anderen Krisengebieten ausgeht, ist auch für Algerien real. Gerade deshalb wird es in Zukunft noch wichtiger werden, diese Menschen mithilfe von speziell ausgebildeten „Profilern“ frühzeitig herauszufiltern und ihre Rückzugsorte in den Vororten von Algier oder anderswo haargenau zu überwachen.

Aus dem Französischen von Constantin Hühn