Maler mit Mission
Undiné Radzevičiūtė erzählt in „Fische und Drachen“ über Annäherungen an China
„Fische und Drachen“, der vierte Roman der Litauerin Undiné Radzevičiūtė hat 2015 den EU Prize for Literature gewonnen, einen etwas seltsamen Preis, der anders, als der Name vermuten lässt, kein internationaler, sondern ein von einer nationalen (in diesem Fall litauischen) Jury vergebener und mit 5.000 Euro etwas dünn dotierter Preis ist. Doch das Geld und der Moment der Aufmerksamkeit freuen einen jeden Autor, wie auch der damit einhergehende EU-weit verbreitete Übersetzungsvorschlag. Diesem Vorschlag ist der Residenz Verlag gefolgt – eine kluge Entscheidung!
Der Roman hat zwei Stränge. Zum ist einen ist da die Geschichte des jesuitischen Missionars und Malers Giuseppe Castiglione (1688–1766), der versucht, Chinesen der mandschurischen Qing-Dynastie zu bekehren – doch nicht nur zum Christentum, auch zur europäischen Malerei. Am Ende ist der Einfluss Chinas (auch auf seine Kunst) viel größer als die Auswirkungen seiner Missionstätigkeit. Eine großartig erzählte – und übrigens von Cornelius Hell ebenso übersetzte – Geschichte eines Menschen, der sein eigenes Fremdsein nicht „heilen“ und das Fremdsein seiner Umgebung nicht ändern kann. Als Zugabe erfährt man interessanteste Sachen: was ein Kameleopard ist und warum chinesische Einhörner zwei Hörner haben; wodurch sich Chinesen und Mandschus unterscheiden und was die Eunuchen in der Verbotenen Stadt so treiben. Auch eine leise, sich ausschließlich in Giuseppes Gedankenwelt abspielende Liebesgeschichte schmückt die Castiglione-Linie.
Der zweite Strang: eine skurrile Altbauwohnung im Zentrum einer osteuropäischen Stadt (man sagt nirgendwo, dass es Vilnius ist, aber das versteht sich von selbst) im ungefähren Heute. Vier Frauen: die reizbare Greisin Oma Amigorena, die richtig nervt, und zwar nicht nur die Protagonisten, auch den Leser; ihre Tochter Nora, die früher (zu Sowjetzeiten, versteht sich) eine Kinderbuchautorin war und jetzt erfolgreich in das Fach der „erotischen Krimis“ gewechselt ist; sowie die beiden Töchter Noras: die jüngere, nicht besonders charmante Miki, die immer etwas unwitzig mit der Oma streitet, und die ältere Schascha, die von allen vier Damen am meisten Sympathie beim Leser hervorrufen kann – bald werden wir erfahren, warum. Die Stränge beginnen sich sehr vorsichtig zu kreuzen (als Erstes, irgendwo in der Mitte des Buches, bemerken wir in der Wohnung einen Teller, nach einem Bild von Castiglione bemalt). Nach einigen weiteren Dutzenden gelesener Seiten versteht der Leser allmählich, dass es eben Schascha ist, die über den Jesuiten Castiglione erzählt (schreibt?) – man ist ihr dafür dankbar, dass sie etwas Sinnvolles tut. Die Damen interessieren sich überhaupt für Chinesen: Die Fenster ihrer Wohnung führen in den Hinterhof eines chinesischen Restaurants und wahrscheinlich der Botschaft der Volksrepublik China.
Der interessierte Blick aus dem Fenster in den Hinterhof bringt selbstverständlich nicht mehr Erkenntnisse als die Beobachtungen und Empfindungen des Malers Castiglione, der fünfzig Jahre lang unter Chinesen lebte. Ich würde sagen, dieser Strang ist ein klassisches osteuropäisches Skurrilitätenkabinett, ein Beispiel jener großartigen Literatur der 1970er- und 1980er-Jahre, die sich in allen osteuropäischen Ländern entwickelte. Diese Literatur bringt den Leser im besten Falle zum Lachen und Weinen, in einem schlechteren ermüdet sie ihn durch gezwungene Scherze und Einfälle unendlich. Hier, in „Fische und Drachen“, gelingt es den vier Frauenfiguren zwar nicht ganz, den Leser für sie einzunehmen, aber die Auslöschung dieser Familie am Ende des Buchs geht wirklich unter die Haut. Diese Auslöschung ist für mich auch das Sinnbild dafür, dass die Menschen dieser Art – die Schwärmer, die Erzähler skurriler Geschichten und Verbreiter absurder Gedanken, späte Überbleibsel der osteuropäischen Moderne, die zwischen zwei Weltkriegen ihre Blütezeit hatte – keine Überlebenschance und Existenzberechtigung im „neuen Europa“ mehr haben, sie müssen so oder so gehen. Nora fährt mit ihrem Freund nach Australien und bleibt als Einzige am Leben.
Und noch etwas gewinnt der Leser dieses Buchs: Egal, ob wir in China sind oder die Chinesen bei uns, ein gegenseitiges Begreifen wird es nie geben. Allerdings hat das bereits 1889 der alte Kipling festgestellt: „Oh, East is East, and West is West, and never the twain shall meet.“ Doch sind solche Erkenntnisse immer neu, besonders, weil sie für alle Arten von „East“ stimmen, ob es nun der Osten Europas oder der Ferne Osten ist.
Die Sätze von Undiné Radzevičiūtė sind so knapp und elegant, dass man sich fragt, wie sie mit solchen Sätzen 400 Seiten vollschreiben konnte. Und wozu. Der Stoff, der auf 150 Seiten ganz amüsant und interessant oder sogar herausragend ausgesehen hätte, ist auf mehr als doppelter Länge stellenweise ermüdend, was die große Qualitäten des Buches aber nicht schmälern muss: Im chinesischen Strang ist es interessant und einfallsreich, in der Gegenwartsgeschichte der vier Frauen von Zeit zu Zeit lustig und am Ende sehr traurig.
Fische und Drachen. Von Undiné Radzevičiūtė, Residenz Verlag, Wien, 2017.