Live von der Front
Mit tragbaren Kameras dokumentieren dänische Soldaten in Afghanistan ihre Einsätze
Überall sind Kameras. Diese Generation von Soldaten ist besessen davon, ihr Leben zu dokumentieren. Rund um die Uhr posiert sie vor einem elektronischen Spiegel. Überall sind Journalisten und Kameramänner, selbst auf den Außenposten; sie werden gefilmt und fotografiert, wenn sie aufstehen und wenn sie ins Bett gehen, wenn sie essen, wenn sie sich auf Patrouille begeben oder ein Bad nehmen. Die Nachwelt wird sicher bedauern, dass es nicht gelang, die Haltung zu dokumentieren, in der sie am liebsten scheißen. Die letzte uneinnehmbare Position ihres Privatlebens beziehen sie, wenn sie die Hose herunterlassen und sich mit gebeugten Knien über der Erde Afghanistans entleeren.
Nicht nur die eigenen Zeitschriften und Websites der Streitkräfte stehen Schlange, auch Zeitungen und Fernsehen, Dokumentarfilmer, ja, sogar ein Regisseur ist gekommen, um für einen neuen Spielfilm Probeaufnahmen von ihnen und der Wüste zu machen.Vor allem aber filmen sie sich selbst. Sieht man einen Soldaten mit einem Sturmgewehr in der einen Hand, kann man fast sicher sein, dass die andere eine Videokamera hält. Und es werden nicht nur Bilder vom kameradschaftlichen Zusammenleben in einer Pause vom Kriegsgetümmel gemacht – obwohl, seien wir ehrlich, diese Pausen sind verdammt lang, eigentlich gibt es fast nur Pausen. Sie richten ihre Linsen auf die „Action“. Wenn sie in den Kampf ziehen, schnallen sie sich kleine Videokameras an den Helm. Die Kopfbewegungen bestimmen den Blick der Linse wie ein drittes Auge, das sich mitten auf der Stirn geöffnet hat.
Dieser spähende, sich drehende Blick ist ihr Blick, der plötzliche Fokus auf den Kameraden neben sich, wenn er während eines Angriffs vor Erregung schreit, die gewaltigen Fächer aus Feuer und Erde, die in die Luft steigen, wenn eine 500 Pfund schwere Bombe, die sie selbst angefordert haben, dicht neben ihnen einschlägt, den Klang ihrer Stimmen, wenn sie vor Begeisterung über eine Bombenexplosion brüllen oder einen Warnruf vor einem feindlichen Hinterhalt ausstoßen. Den Boden vor ihren Füßen, wenn sie sich vor dem feindlichen Feuer ducken und vorwärtslaufen, um Deckung zu suchen; das Gras, das ihnen ins Gesicht schlägt, wenn sie vorwärtskriechen, um ungesehen näher heranzukommen. Die Kamera sieht alles. Sie registriert jede einzelne Bewegung, auch wenn es ihre letzte ist. Es kommt vor, dass ein Kamerad vor diesem alles registrierenden Auge fällt. Es kommt vor, dass sie mit einem blutigen, zerfetzten Körper in den Händen dastehen, und die Kamera sieht einfach zu – ein bisschen ist es so, als würde die Objektivität der Kamera auch zu ihrer werden. Eine kleine Distanz schleicht sich ein.
Die Munition überprüfen, bevor der Kampf beginnt. Es ist beinahe ein Instinkt. Die Kamera überprüfen, das ist noch wichtiger. Ohne Kamera sind sie blind, die Kamera ist ihr Auge und die Sonnenbrille vor dem Auge. Ohne sie können sie nicht in das scharfe Licht des Entsetzens blicken. Mit ihr können sie überall hineinsehen. Sogar vor den leeren Augenhöhlen des Todes schlagen sie ihren Blick nicht nieder. Fallen sie, wird die Kamera ihnen folgen, bis sie schwer auf der Erde aufschlagen. Ihre Augen sind für immer geschlossen, die Kamera sieht weiter. Einen Grashalm, der sich im Wind wiegt, einen Skorpion, der, erschrocken über den stürzenden Körper, seinen Stachel zur Verteidigung aufrichtet, eine Ameise, die sich ihren Weg zwischen den aufwirbelnden Sandkörnern sucht. Das Leben, es geht weiter, während dunkelrotes Blut die allzeit durstige Erde tränkt.
„Hast du von Henrik gehört?“, wird Martin von seinen Kameraden gefragt. Henrik hat seinen eigenen Tod gefilmt. Er saß auf dem Beifahrersitz eines Lastwagens und seine Videokamera verfolgte den Konvoi vor ihnen. Das hintere Ende eines gepanzerten Mannschaftswagens, ein „Gunner“, der seinen Oberkörper aus der Luke schob, dann die Explosion einer vergrabenen Straßenmine, auf die der Lastwagen fuhr oder die – eher unwahrscheinlich – mithilfe einer Fernbedienung ausgelöst wurde. Ein weißer Blitz, eine Fontäne aus Feuer und Erde, und dann, so lautet das Klischee, wird alles schwarz.
So war es auch für Henrik, nicht aber für die Kamera, die im Gegensatz zu ihm unbeschädigt blieb, als sie beide aus dem zerstörten Fahrerhaus geschleudert wurden. Einen Moment lang fehlt der Kamera ihr Fokus. Alles besteht aus Farbstreifen, wie bei der Aufnahme eines schnell vorbeiziehenden Objekts. Dann ist sie wieder zentriert. Die Kamera liegt auf der Erde und filmt den brennenden Lastwagen, der von orangefarbenen Flammen und schwarzem Rauch eingehüllt ist. Im Vordergrund sieht man Henriks Hand, aber nur seine Hand. Kann man diese Fleischreste, die über einen großen Umkreis verteilt liegen, noch Henrik nennen? Es wird Stunden dauern, sie einzusammeln. Sie sehen Martin an und fragen ihn. Kann man?
Ist es nicht eher so, als wäre sein Name in Stücke gesprengt, als hätten sich die Buchstaben über die Wüste verteilt? Ein „H“ hier, ein „E“ dort, ein Puzzlespiel, das nicht zusammenpasst, ein Scrabble ohne Platz für die noch offenen Buchstaben. Wie sollen sie Henrik jetzt nennen? Sein voller Name liegt zerstückelt in ihren Händen.
Die Aufnahmen hören an dieser Stelle nicht auf. Jemand hebt die Kamera auf. Weiterhin nimmt sie die Suche nach den verstreuten Körperteilen auf. Im Vordergrund eine ganze Hand, noch immer verbunden mit einem Arm, noch immer bereit, den Kommandos des Gehirns zu gehorchen. Diese Hand sammelt Fleischreste aus dem Wüstensand und legt sie vorsichtig in einen schwarzen Plastiksack, der sich bei näherem Hinsehen als Müllsack entpuppt. Jeder winzige Rest dessen, das einmal den Namen Henrik trug, muss mit nach Hause genommen und in denselben Sarg gelegt werden. Wir lassen niemanden zurück, versichert die Armee tröstend den Lebenden und den Toten auf dem Schlachtfeld, und hier ist der Beweis: Nicht einmal ein Fetzen von dem, was du einst gewesen bist, hinterlassen wir. In einem Stück kommst du vielleicht nicht nach Hause, aber nach Hause kommst du.
Und die Kamera filmt und filmt mit ihrem festen Blick, der sich den Schrecken nie entzieht. Und als Martin die Aufnahme sieht, hat er den Eindruck, dass Henriks Kameraden mit der Kamera versuchen, was kein Chirurg vermag: Sie setzen die Reste von Henrik wieder zusammen, sie sammeln die verstreuten Buchstaben seines Namens ein.
Sie haben an den Computern mit ihren Schnittprogrammen gesessen, mit denen sie sich ebenso auskennen wie mit ihren Waffen, und einen Film über Henriks Tod geschaffen, ein Denkmal, einen Grabstein, den die Angehörigen nie sehen werden, den sie sich aber wieder und wieder ansehen müssen; einen Film, verboten für Hinterbliebene. Als der Film auf dem Bildschirm erscheint, fühlt Martin sich wie ein Kind, das von einem verantwortungslosen Erwachsenen in die Dunkelheit eines Kinos geschmuggelt wurde. Die Kameraden sitzen um ihn herum und betrachten aufmerksam sein Gesicht.
Es herrscht eine Stimmung, als wäre das, was sie ihm zeigen, ein Mittelding zwischen einem Porno und etwas, für das weder er noch sie einen Namen haben. Sieh dir unsere Vertrautheit mit dem Tod an, scheinen sie ihm sagen zu wollen, obwohl während der Filmvorführung nicht gesprochen wird. Und plötzlich und intuitiv versteht er, was sie sehen, wenn sie wieder und wieder vor dem Film sitzen: Es ist, als wäre Henrik nicht wirklich tot. Sie sehen einen Anflug von Unsterblichkeit. Dies ist ihr eigener hausgemachter Film über die Endlichkeit eines Kameraden: für sie eine Art Heilungsprozess, den er nicht versteht.
„Henrik“ steht da als Titel des Films. Dann sein Geburtsjahr und die Jahreszahl seines gewaltsamen Todes. Es sind nicht viele Jahre. Martin hat den Verdacht, dass Henrik sich die Inschrift „Rest in Peace“ selbst nicht gewünscht hätte. Es war ihr Wunsch, damit sein Tod nicht zur lebenslangen Qual wird, von der sie für immer verfolgt werden. Ein Regisseur, Cutter oder Kameramann wird im Abspann nicht angegeben. Es ist ein Film ohne Urheber – der Krieg selbst hat Regie geführt, gefilmt und geschnitten.
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg