Kurz vor dem Kollaps

In seinem neuen Buch sagt der Journalist Manfred Quiring den wirtschaftlichen Zusammenbruch Russlands voraus

An schlechten Nachrichten aus und über Russland mangelte es in den vergangenen Jahren in Deutschland nicht. In Verkennung der Ursächlichkeit machen russische Offizielle dafür Vorurteile und eine „Steuerung“ der deutschen Medien verantwortlich.

Doch die Gründe sind objektiver Natur. Korruption, Verstrickung von mafiösen und staatlichen Strukturen, auftragsmörderischer Ehrenkodex und Zynismus der Geheimdienste, bürokratische Willkür, Unterdrückung der Zivilgesellschaft, Verletzung völkerrechtlicher Verträge und Angriffe auf die Nachbarn wurden so oft beschrieben, dass man es nicht mehr hören mag. Selbst die Sprache dafür droht zu erstarren.

Das Wort „Regime“ für die Herrschaft von Wladimir Putin klingt einerseits polemisch, andererseits zu abgenutzt, um noch irgendetwas zu erklären. Und ist doch das einzig treffende. Auch der Name des Präsidenten beschwört keinen lebendigen Menschen mehr herauf, sondern nur noch die Botox-Maske eines Mannes, der sein Selbstwertgefühl dadurch heben muss, dass er seinen Hund an Bundeskanzlerin Angela Merkel schnüffeln lässt.

Es braucht eine integre Stimme und lebenslange Erfahrung, um dieses Konglomerat scheinbar sattsam bekannter Tatsachen wieder sichtbar und erfahrbar zu machen. Manfred Quiring gelingt das Kunststück, die Facetten der heutigen russischen Realität so fesselnd zu beschreiben, dass der Leser sie elektrisiert in ihrem großen und historischen Zusammenhang begreift.

Das Buch ist verblüffend aktuell, noch die Trump-Wahl und Aleppo haben Spuren hinterlassen. Jedoch, wer Russland begreifen will, muss weiter ausholen. Dafür ist der Autor durch seine arbeits- und lebensgeschichtlich enge Verbindung mit dem Gegenstand prädestiniert. Er erinnert sich noch, wie sowjetische Besatzungsoffiziere in der DDR ihm als Kind Geld für Süßigkeiten gegeben haben. 22 Jahre lang war er Korrespondent in Russland. Sein Argumentationsbogen reicht bis zurück zum Zweiten Weltkrieg, dem „Großen Vaterländischen“. Häufig werden eigene Gesprächspartner zitiert, jedes Zitat ist belegt. Der geradezu wissenschaftliche Anmerkungsapparat begründet Vertrauen.

Ausführlich widmet sich der Autor dem Gründungsmythos des Sieges über Nazideutschland. Je schlechter es den Menschen geht, desto dringender wird diese Erzählung vom Sieg gebraucht, desto dünnhäutiger die Reaktion auf jeden Versuch, das gefestigte Narrativ zu hinterfragen. Putins Lavieren bei der Bewertung des Hitler-Stalin-Pakts ist dafür symptomatisch. Die russische Botschaft in Berlin misst den Feierlichkeiten und Kranzniederlegungen zum 9. Mai von Jahr zu Jahr größere Bedeutung zu. Je aggressiver die russische Armee in der Jetztzeit, ob in der Ukraine oder in Syrien, agiert, desto demonstrativer werden der historische Sieg und die Bedeutung des Friedens herausgestellt. Die Masse der Bevölkerung lässt sich von Großmachtphantasien „abspeisen“ – im wahrsten Sinne des Wortes –, denn die Lebenshaltung wird immer teurer.

Der Abzug der Westgruppe der Streitkräfte aus Ostdeutschland wurde als Aufgabe eroberten Territoriums empfunden, das von russischen Soldatenstiefeln berührt und dadurch zu russischem Boden geworden war, wie Quiring mit einer Redewendung aus zaristischer Zeit erläutert. Die Auferstehung der Nation unter Führung des wächsernen KGB-Majors Putin wird ideologisch verbrämt, durch eurasische Theorien und wirre, dabei hasserfüllte Tiraden von Hofphilosophen wie Aleksandr Dugin, die Quiring geduldig seziert und ad absurdum führt. Die im Titel genannte „Russische Welt“ ist eine gefährliche Luftnummer.

Gefährlich ist gerade diese Mischung aus hysterischer – nur so kann man den Jubel über die Krim-Annexion bezeichnen – nationaler Erweckung und der wachsenden inneren Schwäche des Atomwaffenstaates. Eine von Quirings Kernthesen lautet: Nicht von äußeren Faktoren wie der angeblichen Einkreisung durch die NATO lässt sich die russische Führung leiten; sie verfolgt ureigene Interessen, vor allem des militärisch-industriellen Komplexes und der Geheimdienste. Gründlich räumt er mit der Behauptung auf, der Westen habe Russland bei der deutschen Wiedervereinigung zugesagt, die Ostausdehnung der NATO zu verhindern.

Als Student der osteuropäischen Geschichte in den 1980er-Jahren bekam man eingebläut, dass Russland umso gefährlicher sei, je instabiler es im Inneren sei. Damals ein Axiom für frühere Jahrhunderte, erweist sich die These heute als brandaktuell. So wie im scheinbar pazifizierten Tschetschenien, das mit Milliardensubventionen an der Explosion gehindert wird, wachsen in ganz Russland die Widersprüche. Die Verhaftungen prominenter Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes FSB und sogar eines Ministers im vergangenen Jahr, von Quiring ausführlich behandelt, haben nur scheinbar mit Korruptionsbekämpfung zu tun. Sie deuten eher auf Machtkämpfe zwischen den einzelnen Diensten hin. Erhellend ist der Hinweis auf die Verselbstständigung des Geheimdienstes: War der KGB früher nur Dienstleister der herrschenden Partei, so agiert der FSB heute auf eigene Rechnung. Er ist der Staat.

Schritt für Schritt erzählt Quiring das Sterben der Demokratie unter Putin. Der Terroranschlag in der nordossetischen Stadt Beslan 2004 wurde genutzt, um die föderale Gewaltenteilung zu beseitigen und die Gouverneure zu entmachten. Die nicht immer makellosen, aber vom Volk gewählten, unabhängigen Charaktere aus den Regionen, mit denen der Berliner Senat in den 1990er-Jahren Kontakt aufnahm, mussten ab Anfang des neuen Jahrhunderts blassen, vom Regime installierten Funktionärstypen weichen. Ein vergleichbarer Personalwechsel ließ sich bei den Diplomaten beobachten.

Die letzten unabhängigen TV-Sender wurden schon Anfang des 20. Jahrhunderts gleichgeschaltet. Heute herrscht im Fernsehen ein geradezu goebbelsscher Propagandaapparat, der maßgeblich für die Kriegsstimmung gegen die Ukraine verantwortlich ist. Kritische, mutige Geister werden eingeschüchtert, verhaftet, im Extremfall ermordet. Auffällig viele von denen, die den starken Indizien nachgingen, dass die mysteriösen Wohnhausexplosionen von 1999 in Russland, für die offiziell tschetschenische Separatisten verantwortlich gemacht wurden und die Russland als Anlass für den Zweiten Tschetschenienkrieg dienten, in Wirklichkeit vom FSB inszeniert waren, sind ums Leben gekommen.

Die gesellschaftliche Freiheit als eine der wesentlichen Voraussetzungen für ein funktionierendes, starkes Unternehmertum ist erstickt. Schrillstes Signal war die Verhaftung Michail Chodorkowskis 2003. Die Jahre des hohen Ölpreises wurden nicht genutzt, um von der Droge des Rohstoffs herunterzukommen und die einheimische Produktion zu diversifizieren. Korruption und Rechtsunsicherheit behindern die Wirtschaft. Mit dem Verfall des Ölpreises ist die Lage kritisch geworden. Die westlichen Sanktionen sind nicht die wichtigste Ursache für die Wachstumsschwäche.

Die soziale Ungleichheit in Russland ist krasser als in den USA – ein Prozent der Bevölkerung verfügt über 74,5 Prozent des nationalen Reichtums. In Amerika sind es 42 Prozent. Das Sentiment der deutschen Linkspartei  für einen Staat, in dem von Sozialismus nicht im Entferntesten mehr die Rede sein kann, muss erstaunen. Russland wiederum bändelt, in unseliger Tradition des Hitler-Stalin-Teufelspakts, mit den ideologischen Nachfolgern der Nazis an: der AfD, Pegida, Le Pen und anderen. Ziel ist die Spaltung und Schwächung Europas. Deutschland soll „entkolonialisiert“ werden, Hauptfeind ist die angelsächsische Welt. Ungeachtet dessen schwärmt man für amerikanische Konsumgüter und genießt Freiheit und Lebensstil im Westen. Es macht die unglaubliche Korruptheit der herrschenden Clique erst richtig zynisch, dass sie ihr eigenes Volk in immer neue Kriege hetzt, während sie ihr Kapital in Feindesland in Sicherheit bringt. Medienminister Michail Lesin, etwa, verantwortlich für die Knebelung der Fernsehsender in Russland, legte sich vor seinem mysteriösen Tod noch eine Villa in Los Angeles zu.

Wenn dieses System irgendwann implodiert, droht die herrschende Clique ihre Macht und ihren Besitz zu verlieren. Der Kreml tut alles, um das zu verhindern. Bis zur Bundestagswahl 2017 wird man noch so manche Versuche beobachten können, die Wiederwahl Angela Merkels als konsequentester Vertreterin einer klaren Haltung gegen die russische Aggression zu verhindern – durch Fake News, die Instrumentalisierung der Flüchtlingsfrage, Trolle, Informationskrieg. Der Fall Lisa – russische Falschmeldungen über die angebliche Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens in Berlin-Marzahn durch Flüchtlinge – hat das Muster vorgegeben.

So gut wie alle Analysten, besonders russischsprachige Autoren, die ihr Land – anders als manche hiesige Publizisten – ähnlich illusionslos sehen wie Quiring, prophezeien den Zusammenbruch dieses Regimes und seiner Wirtschaft in absehbarer Zukunft. Die Regierung handelt auf mittlere Sicht, ohne Strategie, ohne Vision. Selbstisolierung, Umzingelungswahn und zunehmend paranoide Feindbilder befeuern die wachsende Aggression nach außen. Es ist keine Seltenheit mehr, dass „Philosophen“ wie Dugin oder gar gestandene Universitätshistoriker dazu aufrufen, Kiew zu erobern und ein paar Millionen Ukrainer zu ermorden. Jedes Gesprächsangebot wird inzwischen als westliche Schwäche ausgelegt.

Mit der Stunde null muss also gerechnet werden. Fragt sich nur, ob ihr die militärische Apokalypse vorausgeht – oder ob wir glimpflicher davonkommen. Es tröstet nicht zu wissen, dass Millionen Russen nach Putins Sturz die Verehrung für ihr Idol umgehend vergessen werden. Als der Moskauer Oberbürgermeister Jurij Luschkow 2010 von Premier Medwedew abgesetzt wurde, stimmte fast die gesamte Moskauer Stadt-Duma, bis dato Luschkows Anhänger und Freunde, für das neue Stadtoberhaupt Sobjanin. Auf meine Frage, ob es denn gar keine persönliche Loyalität gebe, antwortete mir ein hoher Beamter der Stadtregierung: „Die wollen alle überleben, verstehen Sie nicht?“ Sollten sich zwanzig Jahre nach der Perestroika so etwas wie innere Unabhängigkeit und Charakterstärke entwickelt haben, in den staatstragenden Schichten ist davon jedenfalls nichts zu sehen.

Das Problem nach der Stunde null werden nicht diejenigen sein, die Russland in seine jetzige Lage manövriert haben. Deren Motive hat Manfred Quiring kundig erhellt. Das Problem wird eher sein, denjenigen unserer eigenen Landsleute ins Auge zu schauen, denen alle Informationen – und dazu gehört auch Quirings exzellente Studie – zugänglich waren und die sich aus Naivität oder Zynismus taub stellten. Quiring zählt einige Namen auf. Er hält ihnen aber auch prominente deutsche Stimmen entgegen, die einen klareren Blick vertreten. Seine Laudatio auf die russische Pop-Legende Andrej Makarewitsch, der für seine Kritik am russischen Angriff auf die Ukraine schwersten Angriffen ausgesetzt ist, macht dem Leser Hoffnung, dass das, was er an Russland und seiner Kultur immer geliebt hat, am Ende siegen wird.

Putins russische Welt. Wie der Kreml Europa spaltet. Von Manfred Quiring. Verlag Ch. Links, Berlin, 2017