Im Namen unserer Sicherheit
Die Europäische Union rüstet auf: An den Außengrenzen sollen künftig neueste Technologien zum Einsatz kommen. Ein Milliardenprojekt mit eklatanten Schwächen
Militärisch organisierte Lagezentren, Datenbanken mit über zig Millionen Menschen, großflächige Überwachung mittels ferngesteuerter Drohnen, dazu milliardenschwere Fonds für Forschung und die anschließende Beschaffung der benötigten Technologie – kaum bemerkt von ihren Bürgern betreiben die Regierungen der Europäischen Union ein folgenschweres Langzeitprojekt: die großtechnische Aufrüstung zur Kontrolle der Außengrenzen. Bei einem Gipfeltreffen im slowakischen Bratislava im Dezember 2016 erkoren die EU-Regierungschefs die Grenzsicherung zu ihrem wichtigsten Thema aus. Es gelte, die „illegale Migration zu stoppen“ und die „Sicherheit unserer Menschen zu schützen“, sagte Angela Merkel und wollte in dieser Sache gar einen neuen „Geist der Zusammenarbeit“ im ansonsten so zerstrittenen Europa erkennen.
Doch wie soll das angestrebte Überwachungssystem überhaupt genau aussehen? Und welche Vorteile wird es mit sich bringen? Diesen Fragen ist das Recherchenetzwerk „Investigate Europe“, dem auch wir angehören, zwei Monate lang nachgegangen. Wir befragten mehr als 200 Grenzpolizisten, Ermittler, Rechtsexperten, Ingenieure, EU-Beamte und Politiker zu den Grenzsicherungsplänen der EU. Die Resultate sind alarmierend: Das System, das Europa sicherer machen soll und in das bis 2020 mehr als sechs Milliarden Euro aus EU-Mitteln sowie eine Summe gleicher Höhe aus den nationalen Haushalten fließen sollen, ist nicht mehr als eine gigantische und extrem teure technokratische Utopie.
Im Kern geht es der EU bei dem Projekt darum, neue gemeinsame Verwaltungssysteme für die Außengrenzen der Union zu entwerfen. Das soll den politischen Wildwuchs lichten, der seit der Aufhebung der Binnengrenzen zwischen mittlerweile dreißig Staaten der EU und der Europäischen Freihandelszone existiert. Zwar galt die Bildung des sogenannten Schengen-Raums als eine der größten Errungenschaften der europäischen Integration.
Doch sie brachte auch konkrete Probleme mit sich: Das Staatengebilde EU muss gemeinsame Außengrenzen verwalten, ohne eine gemeinsame Regierung zu stellen. Rechtlich unterliegt die Kontrolle der Grenzen bis heute ausschließlich den nationalen Regierungen. Bestrebungen, in Hinblick auf die Überwachung der Außengrenzen neue Kooperationsstrukturen zu entwickeln, gibt es deshalb schon länger.
Peter Burgess, Professor für Sicherheitspolitik an der École Normale Supérieur in Paris, verfolgt Europas Umgang mit Sicherheitsfragen. Er erkennt seit dem 11. September 2001 eine eindeutige Linie. „Damals, nach den Anschlägen in New York, wurde es europäische Strategie, eine eigenständige Sicherheitsindustrie zu entwickeln“, sagt er. Und seitdem definierten in erster Linie deren Manager, was Sicherheit bedeutet. In der Folge, so Burgess, „liegt der Schwerpunkt stets auf Technologien zur Überwachung“, obwohl „nicht belegt ist, ob das überhaupt funktioniert“.
Das zeigt schon der Blick auf die gemeinsame Grenzschutzagentur in Warschau. Als diese 2005 unter dem Namen Frontex startete, verfügte sie über 45 Mitarbeiter und einen Jahresetat von 6,5 Millionen Euro. Die neue Behörde sollte die vielen nationalen Grenzschutzbehörden koordinieren und deren Praxis an gemeinsame Normen anpassen. Seitdem ist das Budget auf 254 Millionen Euro und das Personal auf 359 Beamte angestiegen. Im Jahr 2020 will die EU noch einmal mehr Geld in die Hand nehmen: 320 Millionen Euro sollen es dann sein, ein Anstieg um 5.000 Prozent. Damit koordiniert die Behörde zum einen gemeinsame Einsätze von Grenzschützern verschiedener Länder, insbesondere in der Mittelmeerregion. Vor allem aber betreibt die Agentur in Warschau 2013 das „Eurosur“-System, ein über den ganzen Kontinent gespanntes komplexes Netzwerk zur Grenzüberwachung.
Dazu sollen „Nationale Koordinierungszentren“ (NCC) in allen Mitgliedsländern rund um die Uhr alle Vorkommnisse an ihren Grenzen aufnehmen und gesammelt nach Warschau schicken. In Kombination mit Drohnenvideos und Karten soll in der Agenturzentrale so zu jeder Zeit ein „Lagebild“ verfügbar sein, das die Behörden vor Ort wiederum vor großflächigen Krisen warnen kann. 240 Millionen Euro werde der Aufbau des Systems kosten, kalkulierte die EU-Kommission. Autoren einer im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung angefertigten Studie warnten jedoch bereits, dass diese Angabe auf willkürlichen Schätzungen beruhe. Vielmehr seien Kosten von mehr als 800 Millionen Euro zu erwarten.
In Wirklichkeit zeichnet sich währenddessen bereits ab, dass das System in der Anwendung nicht funktioniert. In Italien erwies sich ein angeblich bereits eingerichtetes Koordinierungszentrum als bloße Fiktion. Bei einem Besuch vor Ort im November konnte die zuständige Beamtin nicht einmal einen Computer mit Anschluss an das Eurosur-Netzwerk vorzeigen. Nur wenige Kilometer entfernt arbeiten die Beamten der italienischen Küstenwache zwar tatsächlich rund um die Uhr an der Überwachung der Seegrenze und koordinieren die Rettung Tausender Migranten aus seeuntüchtigen Booten. Die diensthabenden Offiziere gestehen aber rundheraus, dass sie von „Eurosur“ „noch nie gehört“ haben.
Portugiesische Grenzbehörden sind mit der Agentur in Warschau verbunden. Im Lagezentrum der Lissaboner Nationalgarde gibt ein Beamter Meldungen über Vorkommnisse an Portugals Stränden ein. Aber auch hier kann der diensthabende Major nicht erklären, welchen Nutzen das am Ende haben soll. Wichtig sei das gemeinsame Überwachungssystem mit Spanien. Aber das funktioniert auch ohne Lagebild aus Warschau.
Selbst in Polen, ganz nahe an der Zentrale der europäischen Grenzwacht, können die für Eurosur zuständigen Beamten mit dem System nichts anfangen. „Für uns wäre es gut, rechtzeitig zu wissen, was an den Grenzübergängen zur Slowakei geschieht, dann könnten wir analysieren, was bald in Polen ankommt“, berichten sie. Aber was im regulären Grenzverkehr geschieht, erfasst das System eben gerade nicht.
Damit ist das teure Eurosur-Netz für den Alltag der Beamten an Europas Außengrenzen bisher weitestgehend nutzlos. Zu diesem Schluss kam vergangenes Jahr auch eine Untersuchung des französischen Parlaments. Eurosur, konstatierten die Parlamentarier, „macht nur bereits erfasste Ereignisse sichtbar“, aber zur „Verbesserung der Überwachung kann es nicht beitragen“. Doch die Kommission und die Innenminister der Schengen-Staaten folgen stur dem immer gleichen Prinzip: Mehr Überwachungstechnik soll mehr Sicherheit bringen. Von 2007 bis 2014 investierte die EU mehr als 316 Millionen Euro in neue Technologien zur Grenzüberwachung, ermittelte das unabhängige Transnational Institute in Amsterdam – in High-Tech-Drohnen zur Fernüberwachung und Dokumentenscanner mit Datenbankanschluss.
Seit Neuestem planen Brüssels Sicherheitsstrategen sogar die Vernetzung verschiedener Datenbanken zu einem großen europäischen System. Das Ziel sei ein „EU-weites biometrisches Identitätsmanagement“, erklärt Sicherheitskommissar Avramopoulos. Käme es dazu, wäre jedermann jederzeit überall per Kamera zu identifizieren. Dieses System werde „nach europäischem Recht und unter Einhaltung der europäischen Grundrechte gestaltet“, beteuert der Kommissar. Aber macht es Europa auch sicherer? Und was für ein Europa ist das überhaupt, auf das wir gerade zusteuern?
INVESTIGATE EUROPE ist ein paneuropäisches Pilotprojekt: ein Team von neun Journalisten aus acht europäischen Ländern, das europaweit relevante Themen recherchiert, gemeinsam Thesen erarbeitet und alle Ergebnisse teilt. Unterstützt wird das Projekt durch die Hans-Böckler-Stiftung, die norwegische Stiftung Fritt Ord, die Stiftung Hübner & Kennedy, die Rudolf-Augstein-Stiftung und die Open Society Initiative for Europe. Das Team kooperiert mit den NGOs Journalismfund und n-ost. Die Recherchen zum Grenzregime werden in ganz Europa veröffentlicht. Entstanden sind zahlreiche Artikel, Webfeatures und ein Dokumentarfilm
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