Neuland

„Wir schaffen das, wenn wir wollen“

Die Flüchtlingskrise ist eigentlich eine Staatskrise, findet Ranga Yogeshwar

Herr Yogeshwar, man kennt Sie als ruhigen Erklärer, als Wissenschaftler und Faktenmenschen. Wie ruhig bleiben Sie angesichts der Flüchtlingsdebatte?

Ich bin nicht ruhig, sondern beunruhigt. Vor allem, weil wir in Deutschland keine pragmatische und positive Diskussion über Geflüchtete führen, sondern uns – wie so oft – in den Extremen bewegen. Entweder verteilt man hier Teddybären und zelebriert eine etwas naive Willkommenskultur wie im Sommer 2015 oder es geht sofort in die ganz andere Richtung, wie nach den Ereignissen in Köln, wo die Haltungen vieler Menschen reihenweise umgekippt sind. Vielleicht ist das auch das Wesen unserer deutschen Kultur: himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt, es gibt keine Zwischentöne. Ich bemühe mich natürlich, ein ruhiger Erklärer zu bleiben, aber ich habe bei diesem Thema eine Grundhaltung.

Und die wäre?

Ich gehöre zu denjenigen, die sagen: „Wir können das schaffen, wenn wir nur wollen.“ Zumal der Anteil der Geflüchteten an der Gesamtbevölkerung hierzulande ja noch immer lächerlich klein ist. Auf tausend Deutsche kommen weniger als ein halbes Dutzend Geflüchtete, in Ländern wie Jordanien sind es derweil etwa hundert – und im Gegensatz zu Jordanien ist Deutschland ein wohlhabendes Land. Gleichzeitig bin ich fest davon überzeugt, dass wir von Anfang an die falsche Debatte geführt haben. Wir reden über Obergrenzen, Kriminalität und Abschiebung, statt über die echten Probleme.

Worüber sollten wir denn reden?

Wir sollten eine zielgerichtete Debatte über die Effektivität unserer staatlichen Institutionen führen. Sind diese Institutionen angesichts der Probleme des 21. Jahrhunderts – wie eben der globalen Massenmigration – überhaupt noch angemessen? Wenn ich sehe, wie Deutschland im Handling der „Flüchtlingskrise“ versagt, dann bezweifle ich das. Es herrschen teilweise katastrophale Zustände. Wir befinden uns nicht in einer Flüchtlingskrise, sondern in eine Krise unseres Staatsapparats und müssen uns fragen, warum dieser gerade entgleist.

Wo setzt Ihre Kritik genau an?

Es kann doch zum Beispiel nicht sein, dass ein Geflüchteter sechs Monate warten muss, bevor er hier zum ersten Mal angehört wird; oder dass es der deutsche Staat nicht schafft, Geflüchtete anständig zu registrieren. In jedem Schweizer Skigebiet werden in kurzer Zeit riesige Massen von Menschen mit einem Skipass ausgestattet – mit Lichtbild und allem Drum und Dran –, und in der Flüchtlingskrise erleben wir völlige Intransparenz und wissen nicht mal, wer hier ist? Da läuft etwas falsch. Diese grundlegenden Probleme werden vernebelt und auf diejenigen abgewälzt, die sich nicht adäquat artikulieren können: die Geflüchteten. Der Grundtenor ist dabei immer: Unser Staat ist völlig in Ordnung, Schuld sind die anderen!

Was ist der Weg aus dieser – wie Sie es nennen – Staatskrise?

Zuerst sollten wir schleunigst anfangen, Integration neu zu denken. Eine von oben verordnete Integrationspolitik ist nicht mehr zeitgemäß. Sie sollte durch einen gesellschaftlichen Prozess von unten ersetzt werden. Ein Beispiel: Vor nicht allzu langer Zeit wurde das Lexikon noch von Brockhaus herausgegeben. Dann kam plötzlich Wikipedia und man merkte: Das geht alles viel einfacher, viel günstiger und schneller, wenn der Arbeitsprozess offen gestaltet wird und alle beteiligt werden. Mit der richtigen Systematik könnte man dieses Erfolgsmodell auch auf einen Prozess wie die Integration von Geflüchteten übertragen.

Das klingt einleuchtend, aber auch sehr vage. Wie könnte so ein Modell aussehen?

Lassen Sie es mich an einem konkreten Fall erklären. Ich habe mich zuletzt um einen jungen Syrer gekümmert, der in Damaskus bei einem Logistikunternehmen gearbeitet hat. Da frage ich mich doch: Warum kann dieser Mann nicht in der Region Köln/Bonn arbeiten? Das ist ein toller Standort für Logistik, die Deutsche Post ist da, der Flughafen ist da. Stattdessen schicken deutsche Behörden ihm völlig abwegige Zuweisungsbescheide. Es bräuchte doch nur die einfachste Art von „Matching“ – zum Beispiel über das Internet –, die Leute mit den entsprechenden Qualifikationen dorthin verweist, wo Bedarf besteht. Stattdessen betreiben wir Integrationspolitik wie im 19. Jahrhundert.

Auch rhetorisch bewegen wir uns auf vergangene Jahrhunderte zu: Der Ton gegenüber Geflüchteten wird schärfer. Inwiefern können Sie das nachvollziehen?

Es überrascht mich zumindest nicht, dass die extremen Stimmen lauter werden. Aber auch das hat andere Gründe, als viele zu meinen glauben: Unsere Gesellschaft ist nicht mehr austariert. Die Entwicklungen, die Innovationen und der Fortschritt der letzten zwanzig Jahre waren immens, aber nicht alle Menschen waren in gleichem Maße an den Gewinnen beteiligt. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der sich der Großteil der Bevölkerung als Verlierer sieht. Laut aktuellen Studien besitzen die 64 reichsten Menschen weltweit so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Die Menschen spüren, dass diese Entwicklung weder angepackt noch politisch reflektiert wird.

Was genau hat das mit der Flüchtlingskrise zu tun?

Die Flüchtlingskrise bringt für viele ohnehin schon verunsicherte Bürger das Fass zum Überlaufen und löst elementare Urängste aus: Werden meine ohnehin schon knappen Sozialleistungen jetzt wegen der Geflüchteten noch weiter gekürzt? Wird es noch schwieriger, einen Arbeitsplatz zu bekommen? Die Gefahr ist natürlich, dass uns all das in den gefährlichen, anachronistischen Nationalismus zurücktreibt, den wir heute schon vielerorts beobachten können. Schauen Sie nach Frankreich, nach Polen, nach Ungarn.

Dabei ist es eigentlich nicht neu, dass Millionen von Menschen weltweit auf der Flucht sind. Warum trifft uns das Thema gerade jetzt mit so viel Wucht?

Ich glaube, dass uns die Ankunft so vieler Geflüchteter in Europa zum ersten Mal vor Augen führt, dass unsere eigenen Handlungen spürbare Folgen haben. Insofern ist das ein historischer Moment. Bisher wurden wir mit den Konsequenzen unserer Lebensweise, unseres Wirtschaftssystems und unserer Außenpolitik nie spürbar konfrontiert. Weder in der Kolonialzeit noch in der Moderne wollten wir von den Katastrophen, die wir in der Welt anrichteten, etwas wissen. Unsere Grenzen waren wie aus Gore-Tex: durchlässig für das, was kommen sollte, nämlich Luxusgüter und billige T-Shirts, und undurchlässig für das, was draußen bleiben musste, nämlich Probleme. Doch in der Flüchtlingskrise stehen plötzlich Menschen an unseren Grenzen und es wird klar, dass die Rückkopplung jetzt da ist. Was lange eine Einbahnstraße der Globalisierung war, wird zu einer Zweibahnstraße.

Welche Lehren sollten wir daraus ziehen?

Wir müssen anfangen, uns zu fragen, ob es so weitergehen kann; ob wir auf der einen Seite auf Globalisierung und Freihandel drängen und uns an Waffenexporten bereichern können, während wir auf der anderen Seite nichts mit den Verlierern dieser Politik zu tun haben wollen. Bisher haben unsere Grenzen uns vor dem Echo unserer Handlungen geschützt. Wir konnten uns stets abwenden und sagen: Das Schicksal der anderen kümmert uns nicht. Nun ist es aber so, dass die Probleme, die wir in der Welt verursachen, an unsere Haustür klopfen – und die lässt sich mittlerweile nur noch schwer schließen.

Was sollte die politische Antwort darauf sein?

Es bräuchte eine induktive Politik – entschuldigen Sie mein Physik-Vokabular –, also eine, die einsieht, dass jede unserer Handlungen das Verhalten anderer beeinflusst. Winston Churchill konnte noch an seinem Schreibtisch sitzen und willkürlich die Staatsgrenzen der britischen Kolonien festlegen. Heute ist es aber so, dass jede unserer außenpolitischen Entscheidungen früher oder später zu uns zurückkommen wird. Wenn wir das verstehen, dann führt das am Ende vielleicht sogar zu einer besseren Politik; einer, die global ausgerichtet ist und andere Menschen mit einbindet. Denn eines ist auch klar: Wir können uns nicht mehr in unseren Nationalstaaten verstecken. Und all denjenigen, die stärkere Grenzen und höhere Zäune befürworten, sollte klar sein, dass diese Grenzen sie vielleicht irgendwann selbst ausschließen.

Das Interview führte Kai Schnier