Wer ist hier der Boss?
Wie Flüchtlingskinder und deutsche Lehrer voneinander lernen können
„Warum schlagen Sie ihn nicht? Er hat doch etwas angestellt!“ Diesen Satz hören die Lehrer an einer Schule in Baden-Württemberg, die ich derzeit coache, öfter. Seitdem die Schule Flüchtlingskinder aufgenommen hat, verbringen die Lehrer viel Zeit damit, mit den Schülern zu diskutieren, warum in Deutschland keine Prügelstrafe und keine Selbstjustiz angewendet werden. Die meisten Schüler sind es aus ihren Herkunftsländern gewohnt, dass Autoritätspersonen Macht zeigen und ausüben. Hier kommt etwas ins Spiel, das man in der populären Kulturwissenschaft „Machtdistanz“ nennt. Die Lehrer der Schule stehen hier vor einer völlig neuen Herausforderung. Anstatt wie bisher eine berufsvorbereitende Klasse müssen sie nun zehn pro Schuljahr betreuen. Die Klassen sind voller Jugendlicher aus Krisengebieten.
Diesen Schülern und auch vielen ihrer Eltern ist das Prinzip der Gewaltenteilung nicht bekannt, das in Deutschland im Grundgesetz verankert ist. Die Kinder kommen aus kollektivistischen Gesellschaften, in denen das Individuum sehr früh lernt, sich und seine Bedürfnisse zugunsten der Harmonie des Kollektivs zurückzunehmen. Im Kollektiv sind die Rollen klar verteilt. Jeder muss sich seiner Rolle bewusst sein, das Kollektiv muss am Laufen gehalten werden, da jeder davon abhängig ist. In diesen Gesellschaften gibt es weniger Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung als in einer individualistischen Gesellschaft. Autoritätspersonen müssen in diesem Fall die bestehenden Machtverhältnisse bestätigen, indem sie ihre Macht zeigen und ausüben. Das wird von den Menschen als Stärke wahrgenommen, es gibt Sicherheit und Orientierung und macht ihnen ihre Rolle bewusst.
In Deutschland ist es mittlerweile Teil des Bildungsplans, dass sich Lehrer und Schüler auf Augenhöhe begegnen können und Lehrer mit den Eltern partnerschaftlich zusammenarbeiten. Das ist in vielen anderen Kulturkreisen noch immer ganz anders. Ich erinnere mich an meine Kindheit in Iran. Wenn ich mit meinen Eltern unterwegs war und uns einer meiner Lehrer begegnete, wechselten wir die Straßenseite, weil wir dieser Person wegen ihres hohen Ansehens nicht würdig waren. Der Lehrer tat dann so, als hätte er uns nicht gesehen. Flüchtlingskinder können zu viel Nähe zu Autoritätspersonen als übergriffig empfinden, es ist ihnen peinlich.
Ich bereite derzeit Workshops vor, die den Schülern interkulturelle Kompetenz und Demokratiekenntnisse vermitteln. Eine Woche lang werden wir uns gemeinsam und intensiv mit den Spannungen zwischen kollektivistischen und individualistischen Gesellschaften beschäftigen. Die Teilnehmer können in ihren Muttersprachen an den Workshops teilnehmen. Den Kindern sollen im Großen die demokratische Grundordnung und das Grundgesetz sowie im Kleinen die Schulordnung nähergebracht werden. So können sie verstehen, wie diese im Verhältnis zueinander stehen. Viele dieser jungen Menschen lieben ja die Ordnung und die Freiheit hier. Sie müssen deshalb verstehen, dass man auch in der Schule gewisse Regeln befolgen muss, damit diese Ordnung Bestand hat.
Andererseits müssen auch die Lehrer hinterfragen, ob sie durch ein autoritäreres Auftreten die Schüler dabei unterstützen können. Einige Lehrer, die aus ähnlichen Kulturkreisen wie viele der Kinder kommen, befürworten das. So wie ich auch. Sie finden, dass ein solches Auftreten in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft den Kindern Halt und Orientierung gibt. Den meisten Lehrern fällt diese Vorstellung aber schwer. Ich denke allerdings, dass es immer darauf ankommt, wie Autorität vermittelt wird.
Ich kenne selbst noch die damaligen Prügelstrafen in meiner iranischen Schule. Dass Autorität aber nicht gleichbedeutend mit Gewalt ist, das müssen viele Kinder hier erst lernen. Es bedeutet auch, dass die Lehrer mehr Distanz zwischen sich und ihren Schützlingen brauchen. Es ist eine Herausforderung, Autorität herzustellen und gleichzeitig partnerschaftlich mit Kindern umzugehen. Viele Lehrer und Erzieher in Deutschland nehmen diese Herausforderung jetzt an.
Protokolliert von Fabian Ebeling