Weder Mann noch Frau

In Südmexiko kämpfen Männer, die sich als Frauen fühlen, gegen Diskriminierung

Der frühere Miguel Betanzos Marín, heute Candelaria Marín, stellte vor fast vierzig Jahren fest, dass er nicht mit Autos, sondern mit Puppen spielen und sich lieber wie ein Mädchen anziehen wollte. Warum er wie ein Junge aussah, wusste er nicht, denn im Herzen fühlte er sich weiblich. Bei den Zapoteken, einer indigenen Ethnie im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca, werden solche Menschen „muxes“ genannt.

Ähnlich wie Marín erging es der 23-jährigen Dulce, zuvor Alejandro Martínez, die vor zehn Jahren spürte, dass sie ihr Herz lieber an einen Jungen als an ein Mädchen verschenken wollte. Damals glaubte sie, das seien bloß Phantasien, heute versteht sie sich selbst als muxe – weder Mann noch Frau, sondern frei.

Eine muxe zu sein, bedeutet in den Dörfern auf dem Isthmus von Tehuantepec im Süden Mexikos, auf allen Ebenen um Anerkennung zu ringen, sei es im Büro, im Hörsaal, auf dem Marktplatz oder auch im Bürgermeisteramt. Die muxes sind ein drittes Geschlecht, das seit nunmehr vierzig Jahren – seit Gründung der Organisation „Intrépidas Auténticas Buscadoras del Peligro“ („Unerschrockene wahre Gefahrensucherinnen“) – gegen Vorurteile und Tabus, gegen Diskriminierung und Homophobie ankämpft.

Mit ihrem hellen Teint und ihren langen Haaren tritt Candelaria Marín, 45 Jahre alt, im Allag als „muxe nguiu’“ auf, das heißt, sie trägt Männerkleider, um in ihrem Beruf als Betbruder in ihrem Heimatdorf Unión Hidalgo nicht anzuecken. Zu gesellschaftlichen Ereignissen wie Hochzeiten, Initiationsfeiern oder den Velas, dem großen Maifest in Oaxaca, kleidet sie sich hingegen als Frau. Dass Candelaria auf die Kompromissformel des muxe nguiu’ zurückgriff, liegt jedoch allein an ihrem religiösen Amt. Ihre Mutter, die sie ansonsten immer in ihrem Entschluss, sich als muxe zu verstehen, bestärkt hat, überredete sie zu den Männerkleidern im Berufsleben. Vor jeder Gebetssitzung zieht Candelaria eine dunkle Hose an, dazu Hemd und Halstuch, und bindet ihr langes Haar zu einem Dutt zusammen. „Die Menschen haben viele Vorurteile“, sagt sie. „Ich übe ja ein katholisches Amt aus, und gerade in dem Bereich ist es mit dem Verständnis noch nicht weit her. Das gilt nicht für alle Berufe, aber auch zum Beispiel für Lehrer und Beamte. Abends allerdings, zumal bei Feiern, herrschen bei uns die Petticoats und bestickten Blusen vor, die Tracht der Frauen von Oaxaca.“

Dulce Martínez wiederum tauschte als 13-Jährige ihre gesamte Garderobe aus, unterstützt von ihrer Großmutter, und lebt seither dauerhaft als muxe. Dulce machte ihr feminines Äußeres, ihr strahlendes Lächeln und ihre Locken, die Entscheidung, als muxe zu leben, leichter. Sie dachte nicht lange darüber nach, und schon bald war ihr Kleiderschrank voller Röcke und Blusen. Ohne sich darum zu scheren, was die Leute sagten, stellte Dulce sich im Frauenoutfit hinter ihren Blumenstand im Stadtpark von Juchitán. „Am ersten Tag konnte man mich gar nicht übersehen – mit komplettem Make-up und in einem taillierten Kleid. Manche Kundinnen gratulierten mir, andere sahen mich erst komisch an, aber heute finden mich alle normal, ein Mitglied unserer Gesellschaft, nicht Mann, nicht Frau, sondern muxe.“

Sowohl Dulce als auch Candelaria betonen, sie seien vor Diskriminierung nicht geschützt, zögen auf der Straße Gelächter, Pfiffe und anzügliche Blicke von Männern auf sich. Muxes, die sich auch im Alltag weiblich kleiden, arbeiten zumeist selbstständig – als Stylisten, Choreografen, Partyausstatter, Kunsthandwerker oder Händler.

Candelaria und Dulce trauern allerdings beide auch um befreundete muxes, die aus Hass ermordet wurden. „Adriana, eine meiner besten Freundinnen, haben sie vor sechs Jahren umgebracht. Immer wieder gibt es auch Verbrechen aus Eifersucht – wir muxes können oft nur heimlich lieben“, erklärt Dulce.

Candelaria lebt zusammen mit ihrem Vater in einem Ziegelhäuschen, das sie von ihrer Mutter geerbt hat. In dieser Bude, wie sie es nennt, hängen die Wände voller Fotos, die Candelaria auf Festen zeigen, in Frauenkleidern. Eine echte Liebe zu finden, sagt sie, sei schwierig, aber nicht unmöglich. Zurzeit aber sei sie glücklich liiert. „Wir lieben auch, aber meist behandelt man uns nicht gut.“ Sie lacht schallend. „Wenn uns die Liebe ereilt, genießen wir sie. Viele muxes haben Partner, manche leben mit ihnen zusammen, manche nicht, aber das Herz sucht immer das Glück.“

Dulce sagt zu dem Thema nur wenig, sie betont bloß, dass man sich bei ihr zu Hause an gewisse Regeln halten und abends früh zurück sein müsse.

Aus dem Spanischen von Michael Ebmeyer