Staat gegen Presse

In der Türkei werden unabhängige Medien unter staatliche Verwaltung gestellt und Journalisten entlassen oder eingesperrt. Ein Bericht aus Istanbul 

In Diyarbakır halten Istanbuler Journalisten eine „Nachrichtenwache“, um ihren Kollegen in der Kurdenregion beizustehen: In den Städten, in denen sich der Staat und die PKK bekriegen, herrscht eine Ausgangssperre und Journalisten können nur schwer arbeiten. Die Pressefreiheit in der Türkei ist schon seit Langem ein gefährdetes Gut. Doch in den vergangenen Monaten haben sich die Angriffe verstärkt, Journalisten wurden verhaftet und mit Klagen überzogen, Zeitungen und Fernsehsender unter staatliche Verwaltung gestellt.

Der bisherige Höhepunkt war am 4. März erreicht: Die türkischen Behörden stellten die auflagenstärkste Tageszeitung Zaman unter Zwangsverwaltung. Zuvor hatte ein Istanbuler Gericht Treuhänder bestellt, die das Management des Medienkonzerns Feza Gazetecilik übernommen haben. Zu Feza gehören neben der Tageszeitung Zaman die englischsprachige Today’s Zaman und die Nachrichtenagentur Cihan, die, wie am 7. März bekannt wurde, unter die Leitung derselben Treuhänder  wie Zaman gestellt wurde. Das Gericht wirft dem Medienkonzern Feza „Verbreitung von Propaganda zur Destabilisierung der Türkei“ vor. Feza steht der islamischen Hizmet-Bewegung nahe, die von dem in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen angeführt wird. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bezichtigt Gülen und seine Anhänger, einen „Staat im Staat“ errichten zu wollen. Nachdem das Gericht die Beschlagnahmung der Zeitung Zaman angeordnet hatte, stürmte die Polizei die Redaktion, Proteste von Mitarbeitern der Zeitung wurden mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen unterdrückt. Der inzwischen entlassene Chefredakteur von Zaman, Abdülhamit Bilici, nannte die Ereignisse einen Schwarzen Freitag in der türkischen Geschichte. Am darauffolgenden Sonntag erschien die Zeitung wieder: Den Titel zierte ein Bild Erdoğans, der zugehörige Artikel kündigte an, dass der Präsident bald den letzten Teil einer Brücke über den Bosporus legen werde. Am selben Tag wurde das Onlinearchiv der Zeitung gelöscht.

Premierminister Ahmet Davutoğlu sieht die Situation der Presse naturgemäß anders: In der Türkei ist die Presse seiner Ansicht nach frei. Als der Türkei-Korrespondent der Welt, Deniz Yücel, bei einer gemeinsamen Pressekonferenz von Davutoğlu und der Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang Februar in Ankara in seiner Frage die damals noch inhaftierten Journalisten Can Dündar und Erdem Gül sowie die Menschenrechtssituation im Südosten des Landes erwähnte, sagte Davutoğlu: Dass „man einem türkischen Ministerpräsidenten ins Gesicht blicken und ihn offen beschuldigen kann (...),  das ist auch ein Zeichen für einen Rechtsstaat“. Auch in einer Sendung auf CNN International wies der türkische Premier Kritik an der Regierung wegen der Einschränkung der Meinungsfreiheit zurück. Zuvor hatten 1.128 Wissenschaftler einen Friedensappell unterzeichnet, der die Überschrift „Wir werden uns an dem Verbrechen nicht beteiligen!“ trug: Sie forderten einen Stopp der Militäreinsätze im Südosten der Türkei. Davutoğlu antwortete in der CNN-Sendung auf die Frage, warum gegen die Wissenschaftler nun wegen Landesverrat vorgegangen werde, er sei doch der Erste, der aufstehe, wenn die Meinungsfreiheit eingeschränkt würde. Um sogleich zu ergänzen: „Dieser Aufruf hatte nichts mit Meinungsfreiheit zu tun, es war eine Unterstützungsschrift für die PKK!“ Inzwischen wurden mehrere Wissenschaftler, die den Friedensaufruf unterzeichnet hatten, entlassen, manche mussten Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen. Gegen viele von ihnen haben die Universitäten interne Untersuchungen eingeleitet. Nach Veröffentlichung der Erklärung hatte Präsident Erdoğan die Unterzeichner des Appells als „Landesverräter“ bezeichnet und gedroht, sie müssten für diese Untersuchungen bezahlen. Dass die Universitäten und die Justiz erst nach dieser Äußerung gegen die Wissenschaftler vorgegangen sind, wird nicht als Zufall angesehen.

Nun wissen alle Journalisten und Oppositionelle in der Türkei, was sie zu erwarten haben, wenn der Präsident sagt: „Dafür werdet ihr bezahlen.“ Die prominentesten Opfer Erdoğans sind zwei Journalisten, die bis Ende Februar in der Küstenstadt Silivri westlich von Istanbul in Untersuchungshaft saßen: Can Dündar und Erdem Gül waren im November 2015 unter dem Vorwurf des „Verrats von Staatsgeheimnissen“ verhaftet worden. Can Dündar war zu dieser Zeit Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet. Die Zeitung hatte Waffenlieferungen nach Syrien durch den türkischen Geheimdienst MIT aufgedeckt. Am 29. Mai 2015 lautete ihre Schlagzeile: „Hier sind die Waffen, von denen Erdoğan behauptet, es gäbe sie nicht.“ Fotos von mit Waffen beladenen LKWs dienten als Beweis für die Lieferungen nach Syrien. Unmittelbar danach sagte der türkische Staatspräsident in einem Fernsehinterview über Dündar, er ließe ihn nicht „so davonkommen“. Am 26. November 2015 wurden Dündar und der Chef des Hauptstadtbüros, Erdem Gül, verhaftet. Sie hätten mit der Veröffentlichung „als Agenten Staatsgeheimnisse verraten“, einen „Putschversuch gegen die Regierung“ unternommen und „eine Terrororganisation unterstützt“. In der Anklage taucht Präsident Erdoğan als Opfer, der Geheimdienst MIT als Nebenkläger auf. Ein Novum in der Türkei. Die Staatsanwaltschaft beantragte insgesamt viermal Lebenslänglich und einmal dreißig Jahre Haft. Beweise legte sie auch vor: mehr als fünfzig Kolumnen der Journalisten und mehrere Artikel. Die beiden Journalisten sind seit dem 26. Februar 2016 auf freiem Fuß, nachdem das türkische Verfassungsgericht ihre Haft aufgehoben hatte. Die Anklage bleibt aber weiter bestehen.

Eine andere Gruppe, die für ihre Taten „bezahlen“ muss, sind für Erdoğan die Kurden. Viele Journalisten kurdischer Medien berichten, dass sie von Sicherheitskräften drangsaliert und an ihrer Arbeit gehindert wurden. Die Reporterin der Agentur Jin Haber Ajansi (JINHA), Beritan Çakirözer, wurde am 16.Dezember 2015 in Diyarbakır in Gewahrsam genommen, weil sie auf die Polizei einen „sehr aufgeregten Eindruck“ gemacht habe. Diese Aufregung reichte für die Polizei aus, um nach dem neuen Sicherheitsgesetz einen „einfachen Verdacht“ zu konstruieren. Çakirözer wurde im Anschluss mit der Begründung „Unterstützung der Terrororganisation PKK“ verhaftet.

Der Kameramann des Senders IMC TV Refik Tekin wurde durch Schüsse der Sicherheitskräfte verletzt, als er in der überwiegend von Kurden bewohnten Stadt Cizre eine Gruppe Zivilisten begleitete, die aus einem Kellergeschoss Verletzte bergen wollte. Tekin berichtete, dass ihn die Polizei in seinem verletzten Zustand gefoltert habe. Auch gegen Tekin wird wegen „Unterstützung der Terrororganisation PKK“ ermittelt.

Der Nachrichtenchef der oppositionellen kurdischen Agentur Dicle Haber Ajansi (DIHA) im südostanatolischen Diyarbakır, Ömer Çelik, erzählt, dass die Militärs bei ihren Operationen Kinder, Frauen, Behinderte und alte Menschen töteten. Laut der türkischen Menschenrechtsorganisation HRTF wurden von August 2015 bis Februar 2016 mindestens 224 Zivilisten getötet (darunter 42 Kinder, 31 Frauen und 30 Sechzigjährige). Nach Auskunft von Ömer Çelik wurde die Internetseite seiner Nachrichtenagentur seit dem 24. Juli 2015 28-mal gesperrt, vier Reporter, von denen zwei nach einigen Monaten freigelassen wurden, wurden aufgrund ihrer journalistischen Tätigkeit verhaftet, 38 wurden während ihrer Recherchen in Gewahrsam genommen. „Unsere Reporter werden gefoltert und mit  vorgehaltener Waffe bedroht“, erklärt Çelik.

Acht Journalisten aus Istanbul, die im Rahmen der Initiative „News-Watch“ nach Diyarbakır kamen, waren einen Tag lang als freiwillige Reporter unterwegs. Dabei war auch die Hochschullehrerin Ceren Sözeri von der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der Universität Galatasaray. Sie sagt, dass die Journalisten gegenüber dem Staat und auch den Medienunternehmern eine sehr „fragile“ Rolle einnähmen. „Meine Akademikerkollegen und ich haben vielfach darauf hingewiesen, dass Mainstream-Medien wie auf einen Befehl hin die Kriegsrhetorik der 1990er-Jahre übernommen haben.“ Die 1990er-Jahre waren die Hochzeit des Kurdenkonflikts. Sözeri weiß auch, dass Übergriffe auf kurdische Journalisten in der türkischen Öffentlichkeit keine großen Reaktionen mehr hervorrufen.

Die Situation der Presse verschärft sich zunehmend. Auf Twitter haben Leser der Tageszeitung Birgün eine Kampagne unter dem Motto „Tritt ein für Birgün“ gestartet. Die Zeitung erschien am 1. Januar 2016 mit der Schlagzeile „Aufruf an unsere Leser“ und beklagte den wirtschaftlichen Druck. So würden Unternehmen, die Anzeigen bei der Zeitung schalteten, auf eine schwarze Liste kommen, Mitarbeiter der Zeitung würden mit Schmerzensgeldklagen wegen Präsidentenbeleidigung überzogen, deren Streitwert nicht unter 33.000 Euro liege. Verfahren würden von den Gerichten „automatisch“ zugunsten von Erdoğan entschieden. Das juristische Vorgehen ist aber nur ein Mittel, um unliebsamen Journalisten einen Maulkorb zu verpassen. Der Media-Monitoring-Bericht des Unabhängigen Netzwerks BIA zählt für 2015 sechs Sendeverbote, fünf Geheimhaltungsentscheidungen und zehn Diskriminierungsfälle bei der Akkreditierung von Journalisten auf. 118 Internetseiten, 353 Twitter-Accounts, 399 Meldungen und Kolumnen sowie 21 Fernsehsender wurden zensiert. 28 Personen, darunter 19 Journalisten und zwei Karikaturisten, wurden mit der Begründung, den Staatspräsidenten beleidigt zu haben, zu insgesamt 21 Jahren, sechs Monaten und 19 Tagen Haft verurteilt. Den Jahreswechsel 2015/2016 haben 31 Journalisten und acht Publizisten im Gefängnis verbracht. 28 Journalisten und Publizisten wurden aufgrund von Kontakten zu einer Terrororganisation verurteilt, drei sollen „Propaganda für eine Terrororganisation“ gemacht haben.

Übergriffe gegen Medien nahmen zwischen den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 und der Wiederholung der Wahl am 1. November 2015 zu. Eine Gruppe von rund 200 Angreifern versuchte am 6. September 2015 das Gebäude der Zeitung Hürriyet in Istanbul zu stürmen. Regierungsnahe Gruppen hatten die Medien der Doğan-Gruppe, zu der Hürriyet gehört, als „PKK-Anhänger“ ausgemacht, da sie über die Angriffe der PKK gegen Militärwachen berichteten. Die Angreifer randalierten im Erdgeschoss des Redaktionssitzes, wobei auch Rechner beschädigt wurden und Scheiben zu Bruch gingen. Am 30. September 2015 wurde der beliebte Kolumnist der Hürriyet Ahmet Hakan auf dem Nachhauseweg zu-sammengeschlagen. Er musste anschließend im Krankenhaus behandelt werden. Von den sieben Verdächtigen für die Tat wurde der letzte Angeklagte im Januar freigelassen.

Im selben Zeitraum verloren viele Journalisten der Hürriyet ihre Arbeit. Damit erreichte die Zahl der 2015 insgesamt in der Türkei entlassenen Journalisten einen neuen Rekordwert: 348 Journalisten und Medienschaffende wurden entweder entlassen oder zur Kündigung gezwungen.

Aus dem Türkischen von Attila Azrak