„Ich dachte, ich sei ein Schweizer Bub“
Der irakische Regisseur spricht übers Dazugehören
Sie wurden in Bagdad geboren und sind als Kind mit Ihrer Familie in die Schweiz umgesiedelt. Wie erlebten Sie das Ankommen dort?
Meine Mutter wurde zwar in der Schweiz geboren, aber wenn man damals einen Ausländer heiratete, wurde man ausgebürgert. So kam ich zwar eigentlich als „Ausländer“ in die Schweiz, hatte aber trotzdem das Gefühl, ich sei ein Schweizer Bub. Mir wurde aber immer gesagt: „Du bist gar kein Schweizer!“ So wurde ich ausgegrenzt und in meiner Pubertät entwickelte ich einen ungeheuren Hass auf die Gesellschaft. Diese Zurückweisung kann zu einer starken Kränkung werden, insofern verstehe ich die, entschuldigen Sie, „Kanakenaufstände“ junger Leute in Frankreich oder England, die sagen: „Wir sind hier geboren und aufgewachsen und ihr sagt uns die ganze Zeit, wir gehören nicht dazu. Was soll das?“
15 Jahre nach Ihrer Ankunft bekamen Sie dann die Staatsbürgerschaft. Was mussten Sie dafür tun?
Man musste eine Sprach- und Geschichtsprüfung machen. Ich kannte die Geschichte des Landes in-und auswendig, musste alle Bundesräte runterstottern, die nicht mal meine Kollegen kannten. Das war eine komische Situation, denn ich war längst integriert. Inzwischen habe ich aber volle Anerkennung erhalten! Die Schweiz schlug meinen Film „Iraqi Odyssey“ als Oscar-Beitrag für den besten fremdsprachigen Film vor. Da hatte ich das Gefühl, die Schweiz erkannte mich als Iraker und als Teil von sich an. Besser konnte es nicht kommen, das war etwas Gutes.
Der Film erzählt die Geschichte des Iraks im 20. Jahrhundert entlang Ihrer Familiengeschichte. Viele Ihrer Verwandten mussten das Land als politisch Verfolgte verlassen. In den Interviews, die Sie mit ihnen führen, wirken sie sehr gelassen, zufrieden.
Ja, aber ich habe den Teil ausgelassen, der erzählt, dass alle noch einmal von vorn anfangen mussten als Ärzte, Ingenieure oder Akademiker. Das haben sie mit großem Lebenswillen gemacht. Ich würde behaupten, neunzig Prozent aller Migranten sind so. Wenn du dich entschieden hast, zu gehen, oder gehen musstest, dann willst du ein neues Leben, etwas aufbauen.
Würden Sie sagen, dass das auch auf die Geflüchteten zutrifft, die nun aus Syrien und dem Irak nach Europa kommen? Trotz Krieg und Vertreibung nehmen sie ihr Leben doch auch selbstbestimmt in die Hand.
Das sehe ich schon so. Sie leben dem satten Normalbürger etwas vor. Leute, die von diesen Migranten verlangen, sich zu integrieren, haben nicht verstanden, dass die schon längst integriert sind. Sie haben am eigenen Leib erfahren, was Globalisierung bedeutet, sind mit Dingen konfrontiert worden, von denen man hier keine Ahnung hat. Es ist nicht mehr so nett und adrett wie vor fünfzig Jahren. Aber das kann nicht die Schuld der Migranten sein. Die sind voll integriert in dieser neuen, chaotisch organisierten Welt. Das sollten die anderen auch einmal versuchen.
Was heißt denn, angesichts der Umstände, Heimat heute für junge Iraker?
Heimat ist der Ort, an dem man lebt, wo man sich wohlfühlt. Denn egal wo man ist, die Menschen haben heute über die sozialen Medien zeitgleich Einblick in die Ereignisse in ihren Heimatländern. Ich glaube, das Gleiche gilt auch für junge Iraker. Zwischen August und Oktober 2015 gab es mit bis zu 500.000 Menschen die größten Demonstrationen im Irak seit der amerikanischen Invasion 2003. Es wurde gegen Korruption, für eine wahre Demokratie und den säkularen Staat demonstriert. Der Präsident Haider Abadi musste auf den Druck der Straße reagieren und richtete ein neues Antikorruptionsgericht ein. Die jungen Menschen entdecken also die Zivilgesellschaft, an der sie teilhaben und die sie mitbestimmen können.
Was glauben Sie, ist das Wichtigste, das man jetzt für die Menschen tun kann, die sich auf den Weg nach Europa gemacht haben?
Es sollte keine Diskussionen um das Prinzip der Menschlichkeit geben. Ich bin sicher, dass sich 99 Prozent der Menschen hier voll integrieren werden, wenn keine politische Lösung für die Syrienkrise gefunden wird. Natürlich ist es besser, wenn man an die Hand genommen wird und gute Freunde findet. Ich plädiere also für Unaufgeregtheit. So ähnlich, wie Angela Merkel das gemacht hat.
Das Interview führte Fabian Ebeling