Die unerreichbare Tochter
U Kyaw Thien und seine Frau leben heute in Bangkok, ihr Kind blieb in Myanmar zurück. Eine Exilgeschichte
„Für uns gibt es keinen Platz. Nirgendwo.“ U Kyaw Thien senkt den Kopf und schüttet ein wenig Butter, Mehl und Wasser in eine blaue Schüssel. In einer ruhigen Seitenstraße in Bangkok leben er und seine Frau Alima in einem kleinen Zimmer. In der von Hochhäusern geprägten, pulsierenden Metropole fallen sie nicht auf; niemand fragt hier, woher sie kommen. Es ist schwül und heiß. In ihrem Zimmer müssen sie das Neonlicht anschalten. Der Fensterspalt ist zu schmal, um genügend Licht hereinzulassen. U Kyaw Thien ist schon seit zwanzig Jahren hier, Alima seit 2012. Aus ihrem Heimatland Myanmar mussten sie beide fliehen. Sie starren auf einen Stapel Fotos. „Das ist meine Tochter Suemaya“, sagt U Kyaw Thien, „ich habe sie noch nie gesehen.“
U Kyaw Thien und Alima wurden in einem kleinen Dorf in einer westlichen Provinz von Myanmar geboren, die zu dieser Zeit noch Arakan hieß. Ihre Eltern gehörten einer muslimischen Volksgruppe an, die eine eigene Sprache und Kultur pflegt – den Rohingya. Weder Myanmar noch Bangladesch, woher die Rohingya angeblich ursprünglich stammen sollen, erkennen sie aber als Volksgruppe an.
Solange U Kyaw Thien denken kann, gab es die Militärdiktatur in Myanmar. Er war drei Jahre alt, als sich das Militär dort 1962 an die Macht putschte, Diskriminierungen gehörten zu seinem Alltag. Als er mit zwanzig in die damalige Hauptstadt Rangun kam, fühlte er sich zum ersten Mal frei. Das Militär rekrutierte gerade, auch bei den Rohingya. „Ich habe mich sofort beworben. Lieber wollte ich mich mit dem Feind verbünden, als gegen ihn zu kämpfen.“ Die folgenden 13 Jahre kämpfte er auf der Seite des brutalen Regimes. In einem Gefecht gegen die Kachin, eine andere ethnische Volksgruppe in Myanmar, wurde er angeschossen. Als 33-jähriger Kriegsveteran kehrte er zurück in sein Dorf in der Provinz, die mittlerweile Rakhaing hieß. Das Militär hatte dem Land, den Provinzen und den Städten neue Namen verliehen: Rangun wurde zu Yangon und Birma zu Myanmar.
Wieder in seinem Heimatdorf, lernte U Kyaw Thi en Alima kennen, die im Geschäft ihrer Eltern arbeitete. Als Alima ein Jahr später, 1993, 18 wurde, heirateten sie. „Es war eine glückliche Zeit“, schwärmt er. Doch die politische Lage in Myanmar änderte sich bald. Im Rahmen von „Erneuerungen“ verlor U Kyaw Thien 1996 seinen Kriegsveteranenstatus. Verzweifelt fuhr er nach Yangon, wo er sich einst so frei gefühlt hatte. Doch er hatte es versäumt, dafür eine kostenpflichtige Genehmigung zu beantragen. Ohne eine solche durften Rohingya zu dem Zeitpunkt ihren Aufenthaltsort innerhalb Myanmars nicht mehr verlassen. In Yangon erfuhr U Kyaw Thien, dass er deswegen auf einer schwarzen Liste stand und ihm die Inhaftierung drohte. Mithilfe eines Schleppers versteckte er sich in einem Lastwagen und floh über die Landesgrenze nach Thailand. Alima, die im Dorf geblieben war, machte sich große Sorgen. Das Letzte, was sie von ihrem Mann gehört hatte, war, dass das Militär nach ihm suchte. Erst nach U Kyaw Thiens Ankunft in Bangkok gelang es ihm, seine Frau zu kontaktieren. Er erfuhr, dass sie schwanger war. In den folgenden 16 Jahren schrieben sie sich Briefe, manchmal konnten sie telefonieren. U Kyaw Thien sah seine Tochter auf den Fotos aufwachsen, die Alima ihm schickte.
2012 besuchte Alima Freunde in Yangon, ihre Tochter Suemaya blieb zu Hause, da sie zur Schule gehen musste und das Geld nicht für zwei Reisegenehmigungen reichte. Dann brach eine neue Welle der Gewalt gegen die Rohingya aus. Sofort wurden die Reisebeschränkungen noch weiter verschärft und die Rohingya mussten an dem Ort bleiben, an dem sie sich gerade befanden. Als Alima von Übergriffen auch in Yangon hörte, fühlte sie sich nicht mehr sicher, lieh sich Geld für einen Schlepper und floh nach Thailand, zu ihrem Mann. 2012 sahen U Kyaw Thien und Alima sich zum ersten Mal seit 16 Jahren wieder.
U Kyaw Thien knetet die Masse in der blauen Schüssel zu einem Teig. Am Abend wird er an der Straße stehen und Roti-Brot verkaufen. Mit dem Geld kann er sich und Alima ein bescheidenes Leben finanzieren. Nicht genug, um einen Schlepper zu bezahlen, der ihre Tochter nach Bangkok holen könnte. Eine Rückkehr wäre für ihn und seine Frau zu gefährlich. Zwar hat Myanmar seit 2015 eine neue Regierung, für Rohingya hat sich dadurch aber noch nichts geändert.