Die schweigende Supermacht
In der Flüchtlingsfrage lassen die Vereinigten Staaten Europa im Stich. Dabei wäre es in ihrem eigenen Interesse zu handeln
Das Ägäische Meer ist im Frühling eiskalt, aber es hält die Flüchtenden nicht auf. Jede Woche ertrinken Menschen, jede Woche machen sich neue Familien aus Syrien, Afghanistan, Libyen, Eritrea und anderen Ländern auf den gefährlichen Weg nach Europa. Dort, am Ziel ihrer Reise, herrscht Chaos: Alle Bemühungen, die Verantwortung in der Flüchtlingskrise auf mehrere Schultern zu verteilen, scheitern, die Reisefreiheit, die man sich in Europa hart erkämpft hat, wackelt. Stacheldraht durchzieht den Kontinent, die schwedische Regierung verkündet, keine weiteren Geflüchteten mehr aufzunehmen, Österreich tut es ihr gleich und alle warten darauf, dass auch die deutschen Grenzen geschlossen werden. Die größte Migrationswelle seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist für Europa zur Zerreißprobe geworden.
Eine der erstaunlichsten Entwicklungen spielt sich allerdings fernab des europäischen Kontinents ab. Weit, weit entfernt, auf der anderen Seite des Atlantiks, sitzt eine Supermacht und schweigt. Die Vereinigten Staaten haben sich in der Flüchtlingskrise von der Weltbühne zurückgezogen und auf den Zuschauerrängen Platz genommen. Jeder, der erwartete, dass Washington die europäische Krise als Bedrohung der nationalen Interessen wahrnehmen würde, lag falsch. Jeder, der zu Recht geglaubt hatte, dass die Amerikaner den Europäern zur Seite springen und sich an der Aufnahme von Geflüchteten beteiligen würden, irrte. Dabei wären es gerade die USA, die in der Flüchtlingskrise die Mittel und Wege hätten, Abhilfe zu leisten.
Nach Jahren des Bürgerkriegs in Syrien ist zweierlei offensichtlich: Erstens wird Europa die Flüchtlingswelle nicht an ihrem Ursprung stoppen können, zweitens wird die Wahrscheinlichkeit, dass syrische Geflüchtete in Zukunft aus Europa in ihre Heimat zurückkehren können, eher kleiner als größer werden, nicht zuletzt weil die Gefahr der Rekonsolidierung eines von Russland und Iran gestützten syrischen Reststaates unter der Führung von Präsident Assad immer realer wird. Die USA hätten längst etwas dagegen unternehmen können – Teile des syrischen Luftraums abriegeln, humanitäre Hilfslieferungen und Zivilisten schützen, den syrischen und russischen Vormarsch stoppen. Doch schon 2013, als Assad ungestraft chemische Waffen gegen sein eigenes Volk einsetzte, stellte die Obama-Regierung klar, dass ein militärisches Vorgehen gegen das syrische Regime keine Option darstelle. Die USA erklärten den Kampf gegen den Terror und insbesondere den Islamischen Staat (IS) zu ihrem Hauptanliegen. Noch nie fühlte Europa sich von Washington so im Stich gelassen.
Auch was die Aufnahme von Geflüchteten anbetrifft, geben die Vereinigten Staaten kein gutes Bild ab. Während der temporäre Migrations-Ausnahmezustand langsam, aber sicher zum dauerhaften Exodus eines großen Teils der syrischen Bevölkerung wird, laden die USA die komplette Last des Flüchtlingsproblems auf europäische Schultern. 65.000 Flüchtlinge nehmen die USA jedes Jahr auf, nicht mehr als 2.000 Syrern wurde in nunmehr vier Jahren des blutigen Syrienkonflikts auf amerikanischem Boden Zuflucht gewährt – das ist weniger als die Zahl derer, die täglich an den deutschen Grenzen ankommen. Präsident Obama hat angekündigt, die jährliche Quote aufzunehmender syrischer Geflüchteter auf 10.000 anheben zu wollen, doch die Republikaner und sogar einige Demokraten verwehren sich dagegen.
Derweil werden die Stimmen in der amerikanischen Politik immer extremer: Im Nachgang des Terroranschlags von San Bernadino, bei dem zwei Islamisten 14 Menschen töteten, sagte der republikanische Präsidentschaftskandidat in spe, Donald Trump, er wolle das Land zukünftig nicht nur gegen Geflüchtete abschotten, sondern gegen alle Muslime. Spätestens wenn sich diese Meinung in der breiten Öffentlichkeit durchsetzt, wird das mächtigste Land der Welt, das Land, dem der Ruf der Einwanderungsgesellschaft vorauseilt, seine besten Traditionen aus Angst aufgegeben haben. Oh, wie klein die Supermacht Amerika doch geworden ist.
Ein wirklich großer Staat würde das genaue Gegenteil der aktuellen Politik praktizieren. Gerade jetzt müsste Muslimen die Einreise erleichtert werden, gerade jetzt müsste man den Terroristen des IS entgegnen, dass man nicht aus Furcht das Richtige unterlässt, gerade jetzt müsste man den Verbündeten in Europa und im Nahen Osten zu Hilfe eilen.
Stattdessen rechtfertigt die amerikanische Regierung ihre Tatenlosigkeit mit Sicherheitsbedenken. Nicht ohne Grund habe man die freizügige Aufnahme von Fremden nach 9/11 mit gründlichen Sicherheitschecks austariert. Dabei verkennen die Verantwortlichen im Weißen Haus, dass zwischen der Steuerung von Gefahren und einer Null-Risiko-Politik ein himmelweiter Unterschied besteht. Tatsächlich würde die Aufnahme von weiteren Geflüchteten, entgegen den Argumenten vieler Zweifler, Washington auch sicherheits- und außenpolitisch in die Karten spielen: Dem Hass des IS würde eine Botschaft der Hoffnung entgegengesetzt, die Gefahr der Radikalisierung in überfüllten Flüchtlingslagern würde verringert.
Vor allem wäre ein Strategiewechsel aber ein deutliches Zeichen der Unterstützung gegenüber europäischen Partnern wie Angela Merkel und Francoise Hollande, die mittlerweile in einer Welle populistischer Stimmen unterzugehen drohen. Die amerikanische Zurückhaltung gegenüber Europa muss ein Ende haben, bevor die Europäer das Gefühl beschleicht, dass ihr wichtigster strategischer Verbündeter und Handelspartner sich vollends abgewandt hat. Doch wie könnte diese neue amerikanische Strategie aussehen?
Dass man Offenheit und Risiko in der Flüchtlingspolitik durchaus in Einklang bringen kann, zeigt derzeit ausgerechnet ein amerikanischer Nachbar. Kanada wurde 2014 von Terroranschlägen heimgesucht, verschiedene Attentäter griffen eine Militärbasis, das nationale Kriegsdenkmal und das Parlament an. Diese schrecklichen Ereignisse hielten die aktuelle Regierung von Ministerpräsident Trudeau im Gegensatz zu der der Vereinigten Staaten allerdings nicht davon ab, allein in den letzten Monaten rund 25.000 syrische Geflüchtete aufzunehmen und die Unterbringung von weiteren 15.000 bis Ende 2016 zu planen. Zusammen mit den Vereinten Nationen überprüfen kanadische Einwanderungs- und Sicherheitsteams in Jordanien, im Libanon und in der Türkei täglich die Identität und den Hintergrund von Geflüchteten, bevor diese auf dem Luftweg ausgeflogen werden. Ein gelungenes Beispiel von Flüchtlingspolitik, dem nicht nur Europa, sondern auch die USA folgen könnten. Da Europa das Sterben Geflüchteter auf dem Mittelmeer ohnehin nur dann verhindern und die Kontrolle über seine auswärtigen Grenzen nur dann zurückgewinnen wird, wenn legale Möglichkeiten zur Aufnahme von Geflüchteten geschaffen werden, sollte eine Einreiseprozedur nach kanadischem Vorbild erwogen werden. So könnten Geflüchtete etwa in Flüchtlingslagern in den Erstaufnahmeländern überprüft, für weitere Sicherheitschecks auf dem Luftweg in sichere Militäreinrichtungen gebracht und schlussendlich in Europa angesiedelt werdenGerade hierbei könnten amerikanische Diplomatie und militärische Stärke eine entscheidene Rolle spielen. Einerseits könnte Washington seinen Einfluss beim türkischen Staatsoberhaupt Erdogan geltend machen, um entsprechende Maßnahmen vor Ort einzuleiten, andererseits könnten sich die USA direkt an dem Aufnahmemodell beteiligen. Bereits 1999, als 4.000 Geflüchtete aus dem Kosovo nach Fort Dix, New Jersey, geflogen, dort von Einwanderungsbehörden überprüft und auf die Vereinigten Staaten verteilt wurden, bewährte sich diese Methode. Was damals gelang, sollte auch heute noch funktionieren.
Ein amerikanischer Kurswechsel in der Flüchtlingskrise – also die Aufnahme von mehr Syrerinnen und Syrern, die Finanzierung von Aufnahmelagern und Einreiseeinrichtungen sowie ein entschiedenes Eintreten für eine Lösung des Konfliktes in Syrien – ist nicht nur unerlässlich, um die amerikanisch-europäische Partnerschaft wiederzubeleben, sondern auch, um die strategischen Interessen der USA zu verteidigen. Um das zu begreifen, muss man sich nur vorstellen, wie die Flüchtlingskrise für Wladimir Putin aussieht. Je schwieriger die Situation in Westeuropa wird, desto leichter wird es für ihn, die Ukraine in zwei Teile zu spalten, die baltischen Staaten einzuschüchtern und die freie demokratische Ordnung, die Amerika auf den Trümmern des sowjetischen Imperiums errichtet hat, zunichtezumachen. Bei genauem Hinschauen ist eine großzügige Flüchtlingspolitik nicht nur dazu gut, sich besser zu fühlen. Sie ist für Amerika eine Möglichkeit, seine Führungsrolle in einer gefährlichen Welt zu behaupten.
Aus dem Englischen von Karola Klatt