Die Krim im Kopf
Esther Kinsky und Martin Chalmers bereisen in „Karadag Oktober 13“ die Halbinsel im Schwarzen Meer
Der erste Blick fällt aufs Meer. Ein Sturm reißt an den Fensterläden der kleinen Pension in Kurortne auf der Krim. Doch das Wasser liegt still unter einem hellgrauen Himmel. Es scheppern „halb abgerissene Schilder“ im Wind, ein „bröckliger Betonsteg ragt ins Meer“ und Pferde grasen „auf dem Hügelkamm vor dem rostenden Teleskop“. So viel morbider Charme ist selten.
Gemeinsam mit dem schottischen Autor und Übersetzer Martin Chalmers reist Esther Kinsky 2013 auf die Halbinsel im Schwarzen Meer. Das Ergebnis dieser Expedition heißt „Karadag Oktober 13. Aufzeichnungen von der kalten Krim“. Der Titel bezieht sich auf das Karadag-Massiv, einen „Fels mit einer Krone von Spitzen, die wie schiefe, am falschen Ort gesprossene Zähne auf dem Kamm saßen“.
Es gibt großartige Augenblicke in diesem Werk. Da ist die kupferhaarige Frau, die Küchenreste an streunende Hunde verteilt, oder ein Bergführer, der seine Wandergruppe „wie eine brave Schulklasse“ um sich schart. Er macht Witze und „weist an, was zu fotografieren ist“. In wenigen Worten erfassen die Autoren die Atmosphäre einer Situation.
Wer sich aber von der Lektüre erhofft, den Ukraine-Konflikt besser zu verstehen, findet kaum Anknüpfungspunkte. Denn hier geht es nicht um Politik, sondern um einen kulturgeschichtlichen Blick. Dabei bekennen sich die Reisenden wiederholt zur eigenen Ratlosigkeit. „Ich verstand das Gelände nicht, den Boden nicht, auf dem ich stand, und nicht den Boden der Verständigung.“
Diese Ehrlichkeit ist entwaffnend, manchmal auch enttäuschend. Etwa, wenn die Neugier auf das Fernsehprogramm ins Leere läuft: „Es gibt nur Programme in Russisch und Ukrainisch. Das Ukrainische hört sich heller an. Aber verstehen kann ich nichts.“ Zudem werfen die Autoren eine Reihe von Fragen auf, die ohne Antwort bleiben. Bestes Beispiel: „Ob das Flüstern vor Ausländern eine Form von Höflichkeit ist oder eine alte Gewohnheit?“
Überhaupt sind die Krimbewohner, denen Kinsky und Chalmers begegnen, weniger Gesprächspartner als stumme Statisten in einer beredten Landschaft. Die eigentlichen Pro-tagonisten sind Pferde, Hunde, Katzen. Dass diese distanzierte Haltung trotzdem ihren Reiz hat, verdankt sich der dichten und nuancierten Sprache. „Karadag Oktober 13“ ist ein Bilderbuch. Nicht weil kleinformatige Schwarz-Weiß-Fotos den Text säumen, sondern weil das Werk von Momentaufnahmen in Worten lebt.
„Karadag Oktober 13“ springt kapitelweise zwischen Kinskys und Chalmers Perspektive. Aber es integriert auch den Blick eines unsichtbaren Dritten – durch eingefügte Aufzeichnungen des Reiseschriftstellers und Diplomaten Laurence Oliphant. Die undiplomatischen Einlassungen des 1829 in Kapstadt geborenen Briten öffnen den Blick in eine Zeit, in der Kamele den Krimreisenden entzücken. Ganz im Gegensatz zu den Hotels in Simferopol, wo es „pro Person ein Leintuch“ gibt, aber „natürlich keine Waschgelegenheit“.
Gegen Ende des Buchs heißt es: „Mai 2014 in Berlin. Die Krim gehört seit zwei Monaten wieder zu Russland.“ Darauf folgt keine Diskussion oder Bewertung der aktuellen Entwicklung. Das ist wenig überraschend, bieten die Autoren doch von Anfang an keine politische Analyse. Eine zweite Reise auf die Krim „wird in der politischen Situation nicht möglich sein“, schreibt Kinsky. Jetzt müsse man mit dem arbeiten, was es gibt: „Fotos, Tagebücher, Leselisten, Erinnerungen, Schnipsel.“
Aus diesem Potpourri ist ein Buch entstanden, das anders ist, „als es werden sollte“. Denn Kinsky hat es allein zu Ende gebracht. Martin Chalmers starb am 22. Oktober 2014. Auf der Basis seiner Notizen hat Kinsky ihm eine „Skizzenstimme“ gegeben, wie sie schreibt. Doch diese wirkt äußerst lebendig – und das ist vielleicht das Erstaunlichste an diesem Werk.
Karadag Oktober 13. Aufzeichnungen von der kalten Krim. Von Esther Kinsky und Martin Chalmers. Matthes & Seitz, Berlin, 2015.