Der vergessene Plan
Vor dreißig Jahren gab es eine ähnliche Flüchtlingskrise wie heute. Was wir aus der Geschichte der Boatpeople lernen können
Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs und der Flucht von Millionen Syrerinnen und Syrern ins Ausland eint die internationale Gemeinschaft vor allem eins: ihre Unfähigkeit, in der Flüchtlingskrise zu kooperieren. Während die Nachbarstaaten Syriens darum ringen, überhaupt mit der enormen Anzahl von Menschen fertig zu werden, die wöchentlich und täglich über die Grenzen kommen, streitet man in Europa seit Monaten um Asylrecht und Verteilungsschlüssel. Ein internationales Konzept zum Umgang mit der Flüchtlingskrise ist nicht in Sicht.
Dabei wäre die Ausarbeitung solch einer breit angelegten Strategie – und das mag den ein oder anderen überraschen – kein Novum. Es gab sie schon, und zwar im Jahr 1989. Was heute der Bürgerkrieg in Syrien ist, war damals der Vietnamkrieg, was heute die syrischen Geflüchteten sind, waren damals die sogenannten „Boatpeople“. Nach dem Sieg der nordvietnamesischen Kommunisten flohen Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre mehr als eineinhalb Millionen Vietnamesen aus ihrer Heimat. Der Großteil versuchte, über das Südchinesische Meer ins Ausland zu gelangen, dabei fanden Hunderttausende den Tod – nicht zuletzt weil potenzielle Aufnahmeländer sie zunehmend schroff abwiesen. Das Schicksal der Boatpeople wurde zu einer humanitären Krise, die eine Lösung verlangte.
Und diese Lösung kam. Sie trug das unscheinbare Kürzel „CPA“ und wurde 1989 auf einer Konferenz in Genf beschlossen. In diesem „Umfassenden Aktionsplan für die Indochina-Flüchtlinge“ einigten sich die Länder Südostasiens darauf, alle Geflüchteten zumindest temporär, das heißt bis zur Feststellung ihres Status als Geflüchtete oder Asylsuchende, aufzunehmen und von kategorischen Abweisungen abzusehen. Gleichzeitig verpflichteten sich die Industriestaaten dazu, ebenfalls in begrenztem Maße Zuflucht zu gewähren. Die Umsetzung des CPA wurde dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR anvertraut, das fortan nicht nur Monitoring-Aufgaben übernahm – also die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts von Einzelpersonen überprüfte –, sondern auch das Orderly Departure Program (ODP) ausarbeitete, mit dem Vietnamesen fortan auf legalem und vor allem sicherem Wege aus ihrer Heimat in die jeweiligen Aufnahmeländer ausgeflogen werden konnten.
Im Rahmen des CPA wurden mehr als eine halbe Million Geflüchteter erfolgreich in Staaten wie den USA, Kanada und Australien neu angesiedelt. Die systematische – wenn auch teils mangelhafte – Feststellung des Flüchtlingsstatus der Boatpeople durch die UN bestärkte die Bereitschaft von Drittstaaten, weitere Geflüchtete aufzunehmen. Selbst Länder wie Thailand und Indonesien, die die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht unterzeichnet hatten, akzeptierten die im CPA festgelegten Empfehlungen. Das ODP sorgte derweil dafür, dass Geflüchtete sich nicht länger auf gefährliche Seereisen einlassen mussten.
Was wir heute beobachten, ist das exakte Gegenteil dieser Maßnahmen: Statt Verantwortung zu übernehmen und kooperative Lösungen auf internationaler Ebene anzustreben, haben Großteile von Europa und dem Rest der Welt sich darauf verlegt, die Fluchtrouten der Geflüchteten bestmöglich zu blockieren. Derweil sind weiterhin rund 68 Prozent der weltweit Vertriebenen in Entwicklungsländern untergebracht, die schlecht dafür gerüstet sind, Schutz zu gewährleisten. Folgerichtig gehen immer mehr von ihnen dazu über, gefährliche See- und Landrouten zu nutzen, um unbefugt nach Europa einzureisen.
Es ist höchste Zeit, nach dem Vorbild des CPA internationale Lösungen anzustreben, etwa die Finanzierung des UNHCR dramatisch aufzustocken, Neuansiedlungsplätze für Geflüchtete zu gewährleisten und sichere Fluchtwege zu schaffen. Entscheidend wird dabei vor allem die Zahl der Industrienationen sein, die schlussendlich an solchen Programmen teilnehmen. Genau wie die Auswirkungen des Vietnamkriegs verlangen auch die des syrischen Bürgerkriegs eine globale Antwort.
Aus dem Englischen von Claudia Kotte