Barometer für die Demokratie
Der Zustrom von Syrern ist ein Test für das politische System des Libanon – und gleichzeitig eine Chance
Forschung zu Flüchtlingen konzentriert sich vor allem auf Vertreibung, Traumata und die Analyse von Konflikten. Nur wenige Studien widmen sich den Einflüssen von Flüchtlingen auf die Demokratie. Gemessen an der Einwohnerzahl beherbergt der Libanon heute die höchste Rate an Flüchtlingen. Können wir am Beispiel Libanon etwas über den Zusammenhang zwischen Flüchtlingsströmen und Demokratie lernen?
Der Libanon bietet ein reichhaltiges empirisches Terrain für Untersuchungen, ob, und wenn ja, wie Unterstützung und der Schutz von Flüchtlingen überhaupt in einem Staat praktiziert werden können, der selbst für seine Schwäche und eine defizitäre Demokratie bekannt ist. Da der Libanon nicht zu den Unterzeichnern der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gehört, wird Zuwanderern nicht der legale Status des Flüchtlings gewährt. Sie werden als Gäste auf Zeit gesehen. Der Zustrom von über 1,2 Millionen syrischen Flüchtlingen seit Beginn des Syrienkonflikts hat die Spannungen zwischen ärmeren aufnehmenden Kommunen und den Flüchtlingen verschärft. Auch die Infrastruktur des Libanon war überfordert und die Defizite der schlecht ausgestatteten Verwaltung traten zum Vorschein. Zum Beispiel mussten die Flüchtlinge mit administrativen Hürden kämpfen, um ihre Aufenthaltserlaubnis erneuert zu bekommen, sie wurden diskriminiert und schikaniert. Gemeinden haben zeitweise Ausgangssperren erlassen. Im Oktober 2014 verschärfte der Libanon zudem seine Grenzkontrollen, um die Ankunft weiterer Syrer einzuschränken.
Dennoch hat diese Krise auch Möglichkeiten dazu eröffnet, die libanesische Aufnahmepolitik auf den Prüfstein zu stellen und lokale Verwaltungen wie auch die Zivilgesellschaft zu stärken. Libanesische Regierungsstellen, besonders das Sozialministerium, haben unterstützt vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) und internationalen Geldgebern nach Wegen gesucht, mit dem Zustrom fertig zu werden. Der Libanon hat sein Aufenthaltsverfahren für syrische Flüchtlinge reformiert und bemüht sich, den Kindern und Jugendlichen Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Ungeachtet der schon errichteten informellen Siedlungen verteilt die Regierung die Flüchtlinge auf Gastkommunen. Traditionen der Arbeitsmigration zwischen Syrien und dem Libanon haben die Integration der Flüchtlinge in den libanesischen Arbeitsmarkt erleichtert. Die Flüchtlingswelle hat im Libanon zudem zu landesweiten Debatten über eine bessere Regierungsführung auf lokaler Ebene geführt. Einige Gemeinden, Unternehmen und NGOs loten derzeit aus, ob kleinere Verwaltungseinheiten daran mitwirken können, die Verbindung zwischen Flüchtlingen und Gastkommunen zu festigen. Und auch wenn der Umgang mit Flüchtlingen im Libanon nicht auf humanitärem Recht basiert, arbeiten internationale und nationale Institutionen und NGOs darauf hin, den Syrern den Zugang zum Rechtssystem zu erleichtern. Libanesische Richter berichten, dass sie in Fällen von Deportationen darauf achten, Entscheidungen zu fällen, die die humanitären Rechte der Flüchtlinge wahren, und dass der Grundsatz der Nichtzurückweisung eingehalten wird.
UNHCR verfolgt zusammen mit einigen libanesischen Initiativen den Ansatz, die Eigeninitiative der Flüchtlinge zu fördern. Ziel ist es, die syrischen Vertriebenen mit Ressourcen und Netzwerken zu versorgen, damit sie die Beschäftigung, der sie in Syrien nachgegangen sind, fortsetzen können. Es wurden Projekte initiiert, die Flüchtlinge durch gemeindenahe und teilhabende Maßnahmen unterstützen und ihnen somit ein Minimum an sozialem Zusammenhalt gewähren.
Der Umgang mit der Fluchtbewegung hat im Libanon in einigen Bereichen verantwortungsvolles Handeln angeregt: Es ist so etwas wie ein „Barometer“ entstanden, mit dem sich „demokratische Qualität“, „Aufnahmebereitschaft“ und „Solidarität“ messen lassen – und auch ihr Fehlen. Vielleicht kann man vom Libanon aber weniger etwas von seinem politischen System lernen als von den Basisbewegungen und lokalen Initiativen der Gastfreundschaft und der Flüchtlingshilfe. Ob in Beirut oder Berlin, es ist die Zivilgesellschaft, die über unmittelbare Gemeinde- und Landesgrenzen hinweg auf der Notwendigkeit von Aufnahme und sozialer Empathie beharrt.
Aus dem Englischen von Karola Klatt