Alles supernett
Etgar Keret hat Kurzgeschichten über den Alltag in Israel veröffentlicht
In jeder Warteschlange denke ich an Ephraim Kishon. Obwohl ich ihn nur einmal las – kurz nach dem Tod meines Großvaters. „Das große Kishon-Buch“ war das dickste Buch in Opas Schrankwand. Dem jüdischen Satiriker fiel auf, dass er schneller bedient wurde, wenn er in der Schlange ein Notizbuch zückte. Man hielt ihn dann für einen Journalisten; Verkäufer oder Postbeamte wurden eilfertig, nervös. Diese Phantasie vergaß ich nie mehr.
Wladimir Kaminer wiederum wurde mir seit seiner „Russendisko“ (2000) oft empfohlen. Ich las all seine Bücher. Meist aber schreibt er harmlos-knappe Wohlfühl-Kolumnen: schlichte Rollen- und Familienbilder, einfältige Pointen. Meist apolitisch. Manchmal reaktionär. Dennoch schafft er Wendungen, die im Kopf bleiben, weil sie Alltägliches in originelle, alltagstaugliche Sprachbilder fassen.
Auch Etgar Keret, einer der erfolgreichsten Literaten Israels, schreibt nun federleichte Alltags-Schmunzeltexte à la Kishon oder Kaminer: „Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn“ ist sein erstes autobiografisches Buch: eine Sammlung von 36 persönlichen Texten, geschrieben zwischen der Geburt seines Sohnes und dem Tod seines Vaters. Dringliche, nahe Snapshots über Vaterschaft und Tod, Generationen und Abschied, Männlichkeit und Familie? Eher nicht. Er ist harmloser als Kaminer, Opa-tauglicher als Kishon. Pointiert, mundgerecht und so knapp-oberflächlich, dass man vor der Lektüre kein Israel-Grundwissen braucht und hinterher, nach knapp vier Stunden Lesezeit, kaum Neues weiß oder versteht: über Keret, seine Familie, Identitäten.
„Wir sehnen uns danach, dass ein echter Krieg an die Stelle dieser ermüdenden Jahre der Intifada treten möge, in denen es kein Schwarz und Weiß gab, sondern nur Grau, in denen wir nicht einer bewaffneten Armee gegenüberstanden, sondern nur jungen Leuten mit Sprengstoffgürteln. Jahre, in denen die Aura der Tapferkeit verschwand und ersetzt wurde von langen Menschenschlangen vor unseren Checkpoints, schwangeren Frauen kurz vor der Niederkunft und älteren Leuten, die kaum die mörderische Hitze ertragen.“
Politischer wird das Buch an keiner Stelle. Sieben Jahre lang bleibt Keret im flapsig-sentimentalen Tonfall eines bloggenden Vaters oder Kreuzfahrt-Comedians: Sein Bruder lebt in Thailand – und ist supernett. Seine Schwester lebt orthodox – und ist eine tolle Mama mit großem Herzen. Seine Frau, sein Sohn bleiben vage, anyonym. Kerets Vater hat den Holocaust überlebt – und blieb sein Leben lang rührig, pfiffig, ein Pfundskerl.
Guy Delisle, ein kanadischer Cartoonist, zog 2008 mit Frau und Vorschulkindern nach Jerusalem und schrieb eine Comic-Reportage über die vielen Missgeschicke und Versäumnisse als dösig-liebenswerter Künstler und Vater. „Jerusalem“ ist eine süffige Graphic Novel – eingangs seicht, aber bald komplex, überraschend intim.
Keret tut das Gegenteil: Er schmeichelt allen Familienmitgliedern. Schwärmt von kurzen Lesereisen und kleinen, bittersüßen Völkerverständigungs-Episoden in Polen, Deutschland, Indonesien. In alle Richtungen: Dank! Lob! Lächeln!
Seine Angst bleibt dabei offenkundig: vor Bombardements und dem Iran, vor Einsamkeit, Verlusten, Trennung, vor Antisemitismus und unfreundlichen Taxifahrern. Keret ist kein Schönfärber. Er hat nur keine Lust, an Abgründe zu treten und, gemeinsam mit uns Lesern, hinabzuschauen. Stattdessen pfeifen seine Texte: „Schaut! Dahinten geht es sicher abwärts. Aber jetzt zurück zu meinem drolligen Sohn: Neulich, im Supermarkt …“
„Gaza Blues“, das Keret 2002 gemeinsam mit dem palästinensischen Schriftsteller Samir El-Youssef veröffentlichte, wurde in Israel zum Kultbuch. Es wurde ins Arabische übersetzt und auch in der Westbank gelesen. Slacker, die sich nach dem Kriegsdienst im Drogendunst verlieren, schieben sich durch das Tel Aviv der 1990er-Jahre. Von der Eindringlichkeit dieser Motive ist Keret heute weit entfernt.
Meine Tage mit Kishon, Kaminer, Delisle bereue ich nicht – denn oft sind leichte Kolumnentexte besonders reich besetzt mit Anekdoten und Gedankensplittern. Ideen, an die wir uns noch jahrelang erinnern. Weil sie so klein, glatt, leicht und handlich sind.
Auch Keret funktioniert auf diesem Level: Als Zwischendurch- oder mögliche Schullektüre (Mittelstufe), als unverfängliches Mitbringsel. Als Buch, das man im „Literarischen Quartett“ durchwinken kann und über das sich Goethe-Institute freuen.
Ärgerlich wird es erst am Ende – als Keret im Nachwort seufzt, diese halb garen, verdrucksten, flauen Ausweichtexte seien für ihn so intim, dass er sie nicht in Israel veröffentlichen werde. Sondern nur außerhalb. Und weil er seinem deutschen Übersetzer Daniel Kehlmann für „Mühe und Hingabe“ dankt – trotz Stilblüten und Wurstigkeiten wie „Sie haben drei Nummern auf Speed Dial“ oder „Gymnastikclub“ (statt „Fitnessstudio“). Wenn Außerirdische mein Haus angreifen, dürfen sie solche mutlosen Bücher gern mitnehmen.
Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn. Von Etgar Keret. Aus dem Englischen von Daniel Kehlmann. Fischer, Frankfurt /Main, 2015.