Abschied von der Nation
Warum eine Idee aus dem 18. Jahrhundert für heutige Gesellschaften nichts mehr taugt
Philip Scheffners neuer Dokumentarfilm „Havarie“ basiert auf einem zweiminütigen YouTube-Clip, den der Ire Terry Diamond mit seinem Smartphone aufgenommen hat: 2012 filmte er auf einer Mittelmeekreuzfahrt ein kleines Schlauchboot voller geflüchteter Menschen, irgendwo vor der spanischen Küste. Scheffner streckt das Video auf neunzig Minuten, zeigt ein Bild pro Sekunde. Im Hintergrund hört man die Gespräche der Protagonisten – Iren, Algerier, Filipinos, Ukrainer, Spanier. Was sagt diese Situation über den Begriff der „Nation“ aus, mit dessen Hilfe wir bislang unser Leben in Gemeinschaften definiert haben? Wird sich unsere Selbstwahrnehmung als Bürger eines Staates ändern, wenn die Zugehörigkeit zu einer Nation weder unsere Lebenswirklichkeit spiegelt noch unsere Vernetzung untereinander berücksichtigt?
In seinem Buch „Die Erfindung der Nation“ von 1983 stellt Benedict Anderson die These auf, der Begriff „Nation“ sei ein kulturelles Konstrukt des späten 18. Jahrhunderts. Die „Nation“ sei etwas Imaginäres, da sich selbst im kleinsten Land die meisten Einwohner untereinander nicht kennen. Alle Gemeinschaften, die größer als ein Dorf sind, das Face-to-face-Kontakte ermöglicht, seien „imagined communities“.
Eine der wichtigsten historischen Kräfte, die bei der Vorstellung der Nation eine Rolle spielten, war die Verbindung von Kapitalismus und Buchdruck. Anfangs konzentrierte sich der Buchdruck auf Veröffentlichungen im Lateinischen, das jedoch nur von Gelehrten gelesen wurde. Als dieser Markt gesättigt war, entdeckten die Buchdrucker die große Lesergruppe, die nur die Volks- und nicht die Gelehrtensprachen beherrschten. Zusehends verbreiteten sich auch Zeitungen in den Volkssprachen, etwa auf Englisch oder Französisch, die ein verstärktes Bewusstsein für die Sprecher der jeweils gemeinsamen Sprache ermöglichten: Menschen wurden fortan über aktuelle Ereignisse informiert, was die Vorstellung einer gemeinsamen Gegenwart begünstigte, die für das Konzept „Nation“ wesentlich ist, wie auch die Bewusstwerdung, dass es andere Sprachräume, also auch andere Nationen gibt. Einen ähnlichen Effekt hatten Romane.
Anderson zitiert hierzu den Roman des philippinischen Autors José Rizal, „Noli me tangere“ („Rühre mich nicht an“), der 1887 während der spanischen Kolonialzeit erschien. Die Innenperspektive des Romans verschmilzt mit der Außenwelt Manilas und schafft eine gemeinsame Erfahrung der Leser und Romanfiguren: Die Protagonisten bewegen sich durch Gegenden der Hauptstadt, die auch den Lesern bekannt waren, sie konnten sich damit identifizieren. Rizal stellt die Landschaft einer Nation dar, die noch keine ist und dennoch in die Zukunft strebt, um eine zu werden.
Auch im Bau der Eisenbahnnetze sieht Anderson ein Element, das die Vorstellung von einem gemeinsam genutzten Raum befördert hat. Züge ermöglichten vielen Menschen Mobilität, sodass sie durch eine als Nation definierte Sphäre reisen konnten, die über ein Dorf oder eine Stadt hinausging.
Der Film „Havarie“ nun stellt ein Ereignis in den Mittelpunkt, das sich mitten auf dem Meer abspielt. Das Wasser hat keine eindeutigen Merkmale aufzuweisen, die es wiedererkennbar machen, so wie dies in einer als Nation vorgestellten Landschaft der Fall ist. Es ist aber sehr wohl ein sozialer Raum, in dem sich zur gleichen Zeit verschiedene Personen befinden.
Anders als in den Romanen des 19. Jahrhunderts wie „Noli me tangere“ gehören die Personen des Films nicht alle derselben Nation an. In diesen Aufnahmen überwinden die Protagonisten andere, virtuelle Räume, die keine Grenzen mehr kennen: Der Soundtrack des Films besteht aus Handygesprächen zwischen einer Frau in Frankreich und ihrem Partner in Algerien, dem Funkverkehr zwischen den Rettungsteams und dem Kapitän des Schiffes und einem Telefonat zwischen einem Mann und seiner Partnerin in Odessa. Ähnlich wie zu Zeiten des Buchdrucks, in denen immer neue Zielgrupppen erschlossen wurden, hat es die Logik des digitalen Kapitalismus ermöglicht, dass fast jeder Mensch auf neue Medien zugreifen kann: Längst dokumentieren nicht nur Touristen die Erlebnisse auf Kreuzfahrtschiffen, auch geflüchtete Menschen nutzen Smartphones als Navigationshilfen.
2015 sind ungefähr eine Million Menschen nach Deutschland eingewandert. Was man leicht vergisst: Dreieinhalb Millionen Deutsche leben außerhalb des Landes. Der World Migration Report der International Organisation for Migration (IOM) von 2010 schätzt, dass die Anzahl der Migranten in Europa in den nächsten dreißig Jahren über 400 Millionen erreichen wird. Vermutlich wird eine ähnlich hohe Zahl von Europäern ihre Heimat verlassen und sich woanders ansiedeln.
Im Prinzip werden nationale Grenzen stetig unterminiert. Wir haben keine andere Wahl, als den Nationalismus als Bezugsrahmen zu hinterfragen und uns der gemeinsamen Erfahrung des Lebens zu stellen – als Gemeinschaften, deren Existenz nicht unbedingt von einer räumlichen Nähe abhängt. Wir sollten einen alternativen Bezugsrahmen akzeptieren, der unseren tatsächlichen Alltag und die Zusammensetzung der Gemeinschaften spiegelt, denen wir physisch und virtuell angehören. Das Beharren auf dem Modell von Herrschaft und Teilhabe, das der Nationalstaat repräsentiert und das aus dem 19. Jahrhundert stammt, hat sich schon im 20. Jahrhundert als desaströs erwiesen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierten Hunderttausende Nicht-Europäer aus ihren Heimatländern, um in Europa Arbeit zu finden. Einwanderer aus der Karibik wurden in Großbritannien als Busfahrer gebraucht; türkische Männer und Frauen arbeiteten in deutschen Fabriken, und algerische und marokkanische Arbeiter gingen nach Frankreich. Sie bauten sich ein neues Leben auf und gründeten fern ihrer nationalen Heimat Familien. Trotz der neuen Zusammensetzung der jeweiligen Gesellschaften wurde der Begriff der nationalen Identität kaum als Orientierungspunkt für gesellschaftliche Teilhabe hinterfragt. Außerdem beschränkte sich die Diskussion um die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft auf die Themen Assimilation und Intergration in die Mehrheitskultur.
Die Basis eines solchen Verständnisses von Kultur war die Sprache, eine gemeinsame Tradition, die gesellschaftliche Praxis und eine gemeinsame Geschichte. Doch durch die Beschränkung auf Integration, Assimilation und möglicherweise noch Multikulturalismus gab man – mit dem Hinweis auf das Prinzip der nationalen Mehrheit – bestimmten gesellschaftlichen Praktiken Vorrang vor anderen, anstatt die Einzigartigkeit der Vielen wertzuschätzen. So entstand ein Paradigma von Eingliederung und Ausgrenzung, wie es für solche Fälle typisch ist. Die Nachteile dieses Paradigmas sind in Europa zu spüren, sie offenbaren sich als Backlash-Bewegungen. Manche sind nationalistisch oder rechtsextremistisch und werden für den Mainstream scheinbar immer attraktiver. Andere nehmen die Form des religiösen Extremismus an. Das kann man als Versuch deuten, zu erzwingen, was Menschen von Rechts wegen nicht erreichen: ein Gefühl von Eingebundensein und Stolz. Ein Teil der Jüngeren sucht – um nicht mehr als Minderheit behandelt zu werden – Identität und „Wir-Gefühl“ im Islam.
Dass sich viele Europäer radikalen religiösen Bewegungen oder der extremen Rechten anschließen, ist ein Ergebnis des Unvermögens, sich eine Gemeinschaft vorzustellen, in der jeder Einzelne als integraler Teil akzeptiert wird, anstatt einer Mehrheit oder Minderheit anzugehören. Das Modell des Nationalismus kann das nicht mehr leisten. Es verschärft gesellschaftliche Konflikte, gibt dem Extremismus in ganz Europa Auftrieb und fördert die Ansicht, bestimmte Unterschiede stellten eine unüberbrückbare Kluft dar, so dass die Lebenweise „von denen“ nicht nur abgelehnt, sondern ausgemerzt werden müsse.
Würden wir nicht mehr so sehr in Kategorien wie „Mehrheitskultur“ und „Minderheitskultur“ denken, gäbe es weniger Tragödien. Ein Weg wäre Toleranz gegenüber Unterschieden in Rasse, Sprache, Sexualität, Religion und kultureller Praxis, und zwar gerade auch bei staatlichen Regelungen und im politische Denken. Da die Migrationsströme nicht abreißen werden, können wir es uns nicht leisten, keine neuen Bezugsrahmen für eine soziale Teilhabe in unseren heutigen variablen und ortsungebundenen Gemeinschaften zu entwerfen; sie müssten dazu führen, dass einzelne Teile nicht zugunsten anderer ausgegrenzt werden und dass kein kulturelles System, keine geschichtliche Entwicklung und keine Lebensform über eine andere gestellt wird. Sie sollten, im Gegenteil, die Möglichkeit zulassen, dass sich innerhalb der Struktur von Gemeinschaften Wahlmöglichkeiten eröffnen und Fluidität herrscht, so wie dies in den virtuellen Gemeinschaften der Fall ist, denen man sich anschließen und die man wieder verlassen kann, ohne eine verletzende Ausgrenzung oder einen Zwang zur Zugehörigkeit erleben zu müssen.
Aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff