Langsamkeit

„Warum bin ich so beschäftigt?“

Was Eile oder Langsamkeit mit dem Denken, der Kunst und dem Körper machen. Ein Gespräch mit der amerikanischen Schriftstellerin

Frau Hustvedt, ständige Erreichbarkeit durch E-Mails und Handys, Berichterstattung in Echtzeit und Aktienhandel in Sekundenbruchteilen – wir leben in einer sehr schnellen Welt. Ist das schlimm?

Im 19. Jahrhundert wurde in England fünf Mal pro Tag die Post zugestellt. Man konnte morgens einen Brief schreiben, ihn abschicken und am Nachmittag schon die Antwort haben. Heute haben wir E-Mails und damit natürlich die Möglichkeit, eine Antwort sofort zu erhalten. Aber manchmal muss man sich auch ein paar Tage gedulden. Ich stimme absolut zu, dass die neuen Technologien unsere Welt verändert haben. Doch oft ist es erhellend, sich an frühere Zeiten zu erinnern und daran, wie alarmiert die Menschen beispielsweise angesichts der Erfindung der Eisenbahn waren. Die Eisenbahn hat das Leben so unglaublich beschleunigt, dass Mediziner damals überzeugt davon waren, dass ein Bahnunfall keinen gewöhnlichen Unfall darstelle, sondern einen ganz besonders schrecklichen. Man sprach sogar vom sogenannten Railway Spine, angeblich eine ganz spezielle Erschütterung der Wirbelsäule durch Eisenbahnunfälle.

Wie wirken sich die neuen Technologien auf Ihr Lesen und Schreiben aus?

Als ich meine Doktorarbeit an der Columbia University schrieb, stammten alle meine Bücher aus der Bibliothek, es sei denn sie gehörten mir. Heute lese ich sehr viel online und finde dort auch meine Quellen. In diesem Sinne ist mein Leben einfacher geworden. Gleichzeitig machen sich viele Menschen Sorgen über diesen schnellen Zugang und darüber, dass besonders junge Leute heute nur noch kleine Schnipsel hier und dort lesen, anstatt sich hinzusetzen und in Ruhe einen ganzen Aufsatz oder ein langes Buch zu lesen. Unsere Gewohnheiten haben sich verändert. Dadurch wird man in in einigen Sachen besser und in anderen schlechter. Man muss ein Gleichgewicht schaffen zwischen dem Eintauchen in ein Kunstwerk, eine philosophische Idee oder einen wissenschaftlichen Gedanken auf der einen Seite und der Möglichkeit sehr schnell Zugang zu Informationen zu haben auf der anderen Seite.

Haben die Menschen heute überhaupt genug Zeit, in Ruhe ein Buch zu lesen?

Studenten sollten diese Zeit haben, denn ihr Job ist es zu lernen. Wenn Universitäten, wie es in den USA vorkommt, bestimmte Bücher aus dem Lehrplan streichen, weil sie für zu schwierig oder lang gehalten werden, ist das eine ganz schlechte Idee. Meiner Meinung nach gehört es zum Wissenserwerb dazu, dass man mit Texten kämpft. Das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Ich bin immer noch mit Edmund Husserl oder Søren Kierkegaard im Clinch. Wir werfen uns in Werke, von denen wir glauben, dass sie wichtig sind, und wir verbringen die nötige Zeit mit ihnen. Wenn man das nicht tut, wird man sie nie verstehen. Romane lese ich immer ohne Eile, weil ich den Text fühlen möchte, ich möchte nicht hetzen. Manche Romane sind sehr spannend und man will wissen, was als Nächstes passieren wird, aber dennoch versuche ich, den Rhythmus der Prosa zu fühlen, wirklich in dem Buch zu leben, während ich es lese. Das ist auch sehr wichtig für meine Erinnerung. Wenn man genug Zeit mit etwas verbringt, behält man es besser im Kopf.

In Ihrem Buch „Die zitternde Frau – Die Geschichte meiner Nerven“, in dem Sie sich mit den Ursachen Ihrer Zitteranfälle beschäftigen, geht es um die Beziehung von Körper und Geist. Welche Rolle spielt körperliche Langsamkeit für Sie?

Da besteht eine tiefe Verbindung. Die Neurowissenschaft liefert hierzu einige Erkenntnisse. Nehmen Sie den Satz „Jim tritt Philip“. Wenn man das liest, wird im Gehirn ein bestimmtes motorisches Areal aktiviert. Dabei findet eine Art Simulation des Tretens statt. Das passiert auch, wenn man sich den Tritt nur vor dem geistigen Augen vorstellt. Das bedeutet, dass das Verstehen von Sprache sich nicht auf Symbolisierungen beschränkt, sondern es irgendeine körperliche Beziehung gibt zu dem, was wir lesen.

Etwas Ähnliches kenne ich aus meiner schriftstellerischen Tätigkeit. Wenn ich beim Schreiben nicht weiterkomme, stehe ich auf und laufe herum. So schüttele ich meine Sinne locker. Es gibt hier eine Verbindung zwischen den Bewegungen des Körpers und dem Denken. Mit Blick auf die Langsamkeit gibt es einen weiteren Punkt: Wenn man lesen, vertrackte philosophische Ideen begreifen oder künstlerisch tätig sein will, ist Entspannung das Beste. Sonst ist man blockiert. Wenn der Körper entspannt ist, kann man leichter lernen, sich an Dinge erinnern oder Kunst machen.

Wie nehmen Sie Schnelligkeit und Langsamkeit in Ihrem Alltag wahr?

In New York –  und sicherlich in den meisten anderen Städten – sagen die Leute immer: „Ich bin so beschäftigt!“ Und natürlich geht mir das auch so. Aber interessant wird es, wenn man sich fragt: „Warum bin ich so beschäftigt?“ Ich denke, es ist eher ein Zustand der Anspannung, als dass man wirklich in Eile ist, um alles, was am Tag ansteht, zu erledigen. Ich kann sagen, dass ich heute weniger beschäftigt bin als zu der Zeit, als meine Tochter noch zur Schule ging. Sie ist jetzt Anfang zwanzig. Ich bin nun sechzig Jahre alt und habe eine andere Einstellung zur Zeit. Meine Haltung hat sich sicherlich verändert, weil ich jetzt die Gewissheit habe, dass vor mir weniger Lebensjahre liegen als hinter mir. Damit hat die Eile in meinem Leben zu tun. Ich will lesen, arbeiten, denken, schöpferisch tätig sein, denn wer weiß schon, wann ich sterbe.

Was haben Sie an anderen Orten und in anderen Kulturen mit Blick auf die Langsamkeit beobachtet?

Immer wenn ich meine Mutter, die 92 Jahre alt ist, in Minnesota besuche, erlebe ich einen Prozess der Entschleunigung. Wenn man dort beispielsweise in einem Supermarkt einkaufen geht, geschieht alles viel langsamer als in New York. Der Kassierer unterhält sich sogar mit einem! Die Leute machen alles in einer anderen Geschwindigkeit. In New York geht es immer zack, zack, zack. Da können Sie einen Unterschied innerhalb einer einzigen Kultur sehen.

Ich kenne auch die karibische Zeit. Die frühere Nanny meiner Tochter kam aus Jamaika, wie auch ihr Mann. Sie war acht Jahre bei uns und wir sind sehr gute Freundinnen geworden. Sie war immer sehr pünktlich und verlässlich. Einmal lud ich sie und ihren Mann zu einer Party bei uns ein – und sie kamen zwei Stunden zu spät! Da begriff ich, dass soziale Zeit in Jamaika etwas anderes ist als in New York. Sie ist viel fließender.

Mein Mann hat mir noch eine andere Geschichte erzählt: Er war einmal mit einem Freund in New Mexico unterwegs gewesen und sie besuchten ein Reservat der Navajo. An einem Abend gingen sie dort ins Kino. Der Film sollte um zwanzig Uhr anfangen. Die Leute kamen mit ihren Pick-up-Trucks zum Kino gefahren. Aber anstatt zu parken und hineinzugehen, blieben die Navajo noch ein ganze Weile in ihren Autos sitzen. Sie unterhielten sich, gewöhnten sich an den Ort, und dann begannen sie ganz langsam sich ins Kino zu bewegen. Als schließlich alle im Saal waren, begann der Film. Da war es 22 oder 23 Uhr. Großartig!

Gibt es für Sie in New York Orte der Langsamkeit?

Ich verbringe viel Zeit im meinem Arbeitszimmer, allein, Stunden über Stunden. Ich habe in dieser Hinsicht ein ungewöhnliches Leben. Ich denke nach, lese und schreibe. Ich mache alles mit einer gewissen Dringlichkeit, aber wenn nötig, nehme ich mir die Zeit, die ich brauche: Ich ziehe in ein anderes Zimmer um, setze mich und gehe noch einmal über einen Text. Ich liebe es auch, in New York in meiner Nachbarschaft spazieren zu gehen. Vor ein paar Tagen hatte ich einen Termin in Manhattan in der Upper Eastside auf der 90. Straße. Ich hatte ansonsten an diesem Tag nichts weiter zu tun. Das Wetter war überraschend warm, und ich bin einfach gelaufen. Ich bin zu einer U-Bahn-Station vierzig Blocks entfernt gelaufen und erst dort in die Bahn eingestiegen. Die Sonne schien und ich bin gelaufen, die Madison Avenue hinunter und hinüber nach Lexington. Das war ein wundervoller Spaziergang!

Das Interview führte Rosa Gosch