In 196 Büchern um die Welt

Ein Jahr lang las sich Ann Morgan durch die Weltliteratur und bloggte darüber. Jetzt hat die Britin über ihren Lesemarathon ein Buch geschrieben

Als sich Sportler aus allen Ländern im Sommer 2012 zu den Olympischen Spielen in London trafen, absolvierte Ann Morgan einen Marathon der besonderen Art. Während die ganze Welt nach London kam, machte sie sich auf, dieser Welt in Büchern zu begegnen. In 365 Tagen las die junge Engländerin je ein Buch aus 196 Ländern der Erde – den 193 Ländern, die bei den Vereinten Nationen anerkannt sind, sowie dem Kosovo, Palästina und Taiwan.

Von A wie Afghanistan bis Z wie Zentralafrikanische Republik. Anregungen holte sie sich über Twitter, ­Facebook und ihren Blog von Bücherwürmern auf der ganzen Welt. Diesen Lesemarathon von vier Büchern pro Woche hat Ann Morgan nicht nur in ihrem Blog festgehalten, sondern ihn jetzt auch in einem Buch rekapituliert. In zwölf Kapiteln, die von der Buchauswahl über das Problem der Authentizität, orale Literatur bis hin zur Zensur und den neuen digitalen Möglichkeiten reichen, zieht sie Bilanz – und reflektiert über Weltliteratur in Zeiten der Globalisierung.

Morgan gibt dabei interessante Einblicke in vertrackte logistische Probleme. Wie etwa an ein Werk aus dem Südsudan gelangen, wenn es dort noch nicht einmal geteerte Straßen gibt? In diesem Fall schrieb eine um drei Ecken vermittelte Südsudanesin speziell für Morgans Blog eine essayistische Erzählung. Auch wurde ein Erzählungsband aus dem afrikanischen Inselstaat São Tomé und Principe eigens für Morgan übersetzt.

Übersetzungen erwiesen sich generell als Problem, da nur rund drei Prozent aller Belletristik-Publikationen in den USA und gut vier Prozent in Großbritannien Übersetzungen sind. Zum Vergleicht: In Deutschland waren 2013 rund 25 Prozent aller Belletristik-Erstauf­lagen Übersetzungen. Andererseits war die Autorin erstaunt zu erfahren, dass sich der erfolgreichste Verlag für Literatur aus der Karibik im englischen Leeds befindet. Denjenigen, die über Self-Publishing die Nase rümpfen, hält sie entgegen, dass der karibische Literaturnobelpreisträger Derek Walcott den Grundstein seiner Dichterkarriere legte, indem er seine ersten zwei Gedichtsammlungen in Eigenregie druckte und an Freunde verkaufte.

Wie unterschiedlich verschiedene Kulturen Bücher lesen, zeigt die Autorin an einer Anekdote: Als die Chinesen Ende des 19. Jahrhunderts Arthur Conan Doyles Geschichten ins Chinesische übersetzten, nahmen sie ihnen mit verräterischen Titeln wie „Der Fall der eifersüchtigen Frau, die ihren Mann ermordete“ jegliche Spannung. Sherlock Holmes diente nämlich in China schlicht als Wissensquelle – in diesem Falle westlicher Investigationstechniken – und nicht als Unterhaltung.

Insgesamt enttäuscht Ann Morgans Bilanz jedoch, da sie den Sprung vom wortreichen anekdotenhaften Blog zum konzisen analytischen Buch nicht geschafft hat. Gerade in den ersten Kapiteln befasst sie sich derart langatmig mit Fragen der Weltliteratur und Authentizität, dass jeder, der einmal eine Einführungsveranstaltung zur Literatur- oder Kulturwissenschaft besucht hat, nur müde gähnen kann. Über Seiten hält sich die Autorin beispielsweise an dem Gemeinplatz auf, dass Name, Herkunftsland, Kultur und Geschlecht eines Autors uns bereits vor dem Lesen beeinflussen. Auch dass Bezeichnungen wie „Entwicklungsländer“ tendenziös sind, ist nicht gerade eine neue Erkenntnis. Die Autorin zitiert mal hier einige Zahlen, mal dort einen Literaturwissenschaftler, schweift zu Urlaubserlebnissen in Griechenland und Indien ab und reiht Fälle von Zensur wahllos aneinander.

Was man einem Blog verziehen hätte, wirkt hier oberflächlich und unausgegoren. Darüber hinaus sind Plattitüden wie die Tatsache, dass wir lesen, um Neues und Ungewohntes kennenzulernen, schlicht ärgerlich. Von der geistreichen, amüsanten und zugleich erhellenden Lektüre etwa eines Alain de Botton ist man hier weit entfernt. Als Leser erschrickt man geradezu, wie borniert Morgans Sicht der Dinge trotz eines so enormen Lesepensums ist. Wenn de Botton recht hat und schon Proust ein Leben verändern kann, wie hätte dann nicht erst dieser Lesemarathon ein Leben verändern müssen?

Gelegentlich gibt es  Momente, in denen sich die Autorin ihrer eigenen Sicht bewusst wird, so etwa, wenn sie über ihr Befremden schreibt, einen offen homophoben Roman aus Papua-Neuguinea zu lesen. Dann wieder fragt man sich, ob sie wirklich erst durch die scharf antibritischen Bemerkungen in Christine Lims „Fistful of Colours“ mit der Kolonialgeschichte Großbritanniens konfrontiert wurde. Morgan schlägt einen derart betulichen Grundton an, dass jegliche Exotik und Fremdheitserfahrung verflacht.

Aber eigentlich macht das alles nichts, denn zum Glück gibt es ja weiter ihren Blog mit jeder Menge Lektüretipps aus 196 Ländern dieser Welt. Und jede Wette, dass die hier aufgelisteten Bücher aus Benin und Dschibuti, Eritrea und Nordkorea, Samoa und von den Seychellen spannendere Begegnungen in sich bergen als Ann Morgans fußlahme Bekenntnisse.

Reading the World. Confessions of a Literary Explorer. Von Ann Morgan. Harvill Secker, London, 2015.
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