Hetze oder Lethargie?
Über das unterschiedliche Zeitempfinden in Orient und Okzident
Vor Jahren war ich in Syrien zu Besuch. Ich fuhr mit dem Zug von meinem Großvater zurück zu meinen Eltern nach Damaskus. Die Entfernung betrug nur siebzig Kilometer, aber die Fahrt dauerte zwei Stunden. Der Zug fuhr langsam und gemächlich, es war kurz vor Sonnenuntergang. Nach einer halben Stunde Fahrt machte der Zug plötzlich halt. Es gab keine Haltestelle, wir befanden uns mitten in der Steppe.
Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie viele Reisende ausstiegen, auch der Schaffner und der Zugführer. Aus Neugier ging auch ich zu ihnen. Sie breiteten ihren Proviant aus und begannen zu essen. Ich fragte, was los sei, die Antwort lautete: „Es ist die Zeit des Fastenbrechens. Wir sind im Ramadan, wissen Sie das denn nicht?“ – „Doch, das weiß ich. Können Sie denn nicht während der Fahrt essen?“, fragte ich. „Warum haben Sie es so eilig? Haben Sie vergessen, dass Eile ein Werk des Satans ist und die Langsamkeit Gottes Werk?“ Über eine halbe Stunde dauerte die Pause. Niemand beschwerte sich, außer mir. Ich merkte, dass ich schon sehr lange in Deutschland lebe.
„Ich habe keine Zeit.“ Das habe ich im Orient noch nie gehört. Man hat dort für Begegnungen immer genug Zeit. Hier hingegen muss alles schnell gehen: der Schnellzug, die Schnellstraße, der Schnellkochtopf. Der Zeitmangel wird sogar dafür verantwortlich gemacht, dass wir unsere Kontakte vernachlässigen und selbst zum Feiern keine Zeit mehr haben. Der Terminkalender ist nahezu unentbehrlich geworden.
Die arabische Kultur hingegen lebt von der Vorstellung einer unendlich andauernden Zeit, die sich langsam und zyklisch bewegt. Der gemächliche Rhythmus beeinflusst Entscheidungen. Immer wieder hört man „So Gott will“. Viele Menschen übernehmen keine Verantwortung für ihr Handeln, deshalb arbeiten sie langsam. Eine Haltung, die mit dem Begriff „Bukra“ verbunden ist: „Etwas ist ungewiss“. Die Langsamkeit beruht aber nicht nur auf Gelassenheit, sondern auch auf Lethargie. „Es wird schon irgendwie gehen, Gott wird uns helfen“. Kommt jemand zu Besuch, lässt man schon aus Höflichkeit keine Eile aufkommen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass die Langsamkeit darin ihren Ursprung hat.
Die Araber beherrschen die Langsamkeit der Poesie. Auf diese Weise können sie das Gedicht genießen. Die arabische Kultur ist noch immer zu großen Teilen eine mündliche. Verse werden nicht gelesen, sondern gesungen. Das Arabische eignet sich gut für Lyrik. Es gibt dem Autor eine große Auswahl an Synonymen. Nur für Prosa braucht man Eile, sogenannte Spannung.
Die Lebenszeit eines Menschen im Orient ist eingebettet in den Raum der Unendlichkeit. Begrenzt durch den Tod, ist sie nur ein kleiner Taktschlag eines universalen Rhythmus. Der Mensch hat die Chance, die Zeit seines irdischen Daseins so sinnvoll und angenehm wie möglich zu gestalten, um die Schönheiten der Erde in all ihrer Vielfalt in sich aufzunehmen.
Das Gefühl der Todesnähe lässt die Menschen im Orient näher zusammenrücken. Judentum, Christentum und Islam sind auch deshalb dort entstanden, weil sich der Mensch nach Harmonie mit sich und seiner Umwelt und einer Besänftigung seiner inneren Unruhe sehnte. Die Religion bot eine Antwort auf die Frage des Todes. Als Trost wird Gott den Menschen im Himmel verwöhnen.
Die Zeitvorstellungen vieler Menschen in den heutigen Industrienationen sind davon denkbar weit entfernt. Das menschliche Leben wird unumstößlich vom Tod beendet. Man hat nur eine abgesteckte Zeitspanne, um die Projekte seines Lebens möglichst effektiv zu Ende bringen, denn „Zeit ist Geld“.
In der arabischen Welt reagiert man jedoch nicht schnell genug. Das hat mit dem Fehlen von individueller Freiheit und Selbstständigkeit zu tun. Die Gesellschaft ist in ihrem kulturellen Kern noch immer nomadisch geprägt. In einer Kultur, in der das Ich nur innerhalb der Gruppe existiert und keinen Platz für sich findet, wird das Tempo der Entwicklung nur langsam zunehmen. Es braucht aber eine angemessene Beschleunigung für gesellschaftliche Veränderungen. Die Langsamkeit ist nicht zuletzt auch eine Angst vor der Moderne.