Dienst am Volk

Weltweit gibt es immer häufiger gewaltsame Zusammenstöße zwischen Polizei und Bürgern. Woher kommt das?

In Tunesien unterhielt ich mich vor zwei Jahren mit einem Arzt, der in einer psychiatrischen Klinik arbeitete. Nach der Revolution von 2010/2011, so der Arzt, sei die Patientenzahl um vierzig Prozent gestiegen. Auch die Zusammensetzung der Klienten habe sich geändert: Überwiegend kämen nun Polizisten, die zur Bekämpfung von Demonstranten gegen die frühere Regierung eingesetzt worden waren. Nach der Revolution haben diese Polizisten keinen Platz mehr in der Gesellschaft gefunden, denn sie spielten in einem entscheidenden Moment in der Geschichte Tunesiens eine Rolle, auf die sie nicht stolz sein können und die sich nicht schönreden lässt. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Präsenz der Polizei bei einem Ereignis, das eine Welle der Proteste im tunesischen Volk, aber auch in anderen arabischen und europäischen Ländern auslöste.

Laut eigener Aussage versuchte im Dezember 2010 die Polizistin Fadia Hamdi auf einer ihrer Patrouillen durch die Stadt Sidi Bouzid, den Karren des Gemüsehändlers Mohammad Bouazizi zu beschlagnahmen, da er keine behördliche Genehmigung für seine Tätigkeit vorweisen konnte. Als Bouazizi versuchte, sich ihr zu widersetzen, rief sie zwei weitere Polizisten zu Hilfe, die ihn gewaltsam von seinem Karren entfernten, bevor sie diesen beschlagnahmten. Bouazizi fühlte sich seiner Lebensgrundlage beraubt und zündete sich selbst an – aus Protest gegen das, was ihm widerfahren war.

Unter dem ehemaligen autokratischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali, der Tunesien von 1987 bis 2011 regierte, hatte die Polizei keinen guten Ruf. Doch ihre Lage nach der Revolution zeigt, dass auch Polizisten Opfer politischer Systeme oder ökonomischer Faktoren sind, die ihnen ihre Aufgaben vorgeben. Wer sich mit den Polizeiapparaten politischer Systeme beschäftigt, kann daraus realistische Erkenntnisse über die Systeme selbst ableiten.

In Ramallah beschrieb mir ein Taxifahrer vor einigen Monaten die Krise, in der die Palästinensische Autonomiebehörde politisch, ökonomisch und moralisch steckt. Der Begriff „Polizei“ spielte in seiner Erklärung eine Schlüsselrolle. Einige Tage zuvor habe ein Polizist ihn angehalten und ihn um etwas Geld gebeten. „Wollte er Schmiergeld?“, fragte ich ihn. „Nicht doch“, antwortete der Fahrer, „er wollte lediglich ein kleines Darlehen von mir, das er angeblich in einer Woche zurückzahlen würde.“ Ich fragte weiter: „Kannten Sie den Polizisten?“ „Nur vom Sehen“, entgegnet er. „Haben Sie ihm etwas gegeben?“, wollte ich wissen. Daraufhin der Fahrer: „Aber nein, mein Tag hatte gerade erst angefangen und ich hatte noch nicht viele Fahrten gemacht.“ Doch die eigentliche Sorge und Angst des Fahrers galten dem, was der Polizist (und im weiteren Sinne die Autonomiebehörde, die er vertritt) unternehmen würde, um an das Geld zu kommen: Er könnte „aus Geldnot zum Beispiel mit jedem zusammenarbeiten, der ihn bezahlt, auch wenn das den Verrat der Gesellschaft bedeutet, der er selbst angehört und der er dienen soll“.

Oft steht die Fantasie von Taxifahrern jener von Romanciers in nichts nach. Unabhängig davon, ob es wahr ist, was er mir erzählte, bringen mich seine Befürchtungen über den palästinensischen Polizeiapparat dazu, über die Beziehung zwischen Polizei und Gesellschaft nachzudenken. Ich persönlich habe noch keinen Tag im Vertrauen auf die Polizei oder ihren Einsatz zu Diensten der Gesellschaft verbracht. Das liegt besonders an meinen Erfahrungen mit der israelischen Polizei, die ich mit vielen Palästinensern teile. Sie hatte es noch nie eilig, der palästinensischen Gesellschaft, die ihrer Kontrolle unterliegt, einen Dienst zu erweisen. Im Osten Jerusalems haben israelische Polizeibeamte die Besatzung vom Militär übernommen. Dort kommt es immer wieder zu Polizeigewalt.

Die Rolle der Polizei als Dienerin der Gesellschaft, der sie angehört, wird oft hinterfragt. Das zeigt die Entwicklung in Tunesien wie auch die Erzählung des Taxifahrers. Dieses Rollenverständnis wurde oft unter dem Motto „Dienst am Volk“ vermittelt. Doch eigentlich schützt die Polizei Teile der Bevölkerung, die politischen und ökonomischen Machtgruppen angehören. Diese können die Polizei problemlos für ihre eigenen Belange nutzen, was dem Wohl der Allgemeinheit entgegenwirken kann. Genau dies geschieht in diktatorischen Regimen. Aber auch in demokratischen Systemen ist die Rolle der Polizei problematisch, wenn auch auf andere Weise, wie manche Ereignisse aus den vergangenen Jahren zeigen. Es sind Fälle, in denen deutlich wird, wie sich die Rolle der Polizei verändert hat.

In Athen tötete eine Polizeistreife im Dezember 2008 einen 15-jährigen Jugendlichen. Der Polizist Epaminondas Korkoneas wurde laut eigener Aussage bei einer Patrouille mit seinem Kollegen von einer Gruppe anarchistischer Jugendlicher erst beschimpft und daraufhin mit Steinen, Stöcken und Molotowcocktails angegriffen. Nach einem Schlagabtausch, bei dem Angriff und Rückzug sich abwechselten, war sein „Empfinden von Unruhe und Angst so gestiegen“, dass Korkoneas drei Schüsse „in die Luft“ feuerte, was die Tötung des Jugendlichen Alexandros Grigoropoulos durch einen Brustschuss zur Folge hatte.

Dieser Tötungsakt löste eine Protestwelle in Griechenland aus. Die Bürger protestierten dagegen, dass die Polizei ungleich gegen Arme, Ausgegrenzte und Reiche vorging. Doch die Proteste reichten weit darüber hinaus: Sie richteten sich gegen die ökonomische Krise in Griechenland, die sich in der hohen Arbeitslosigkeitsrate junger Griechen widerspiegelt, gegen die Korruption, die in staatlichen Einrichtungen verbreitet ist, und gegen die zunehmende Kluft zwischen den Armen und den Randgruppen und der reichen Gesellschaftsschicht. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in vielen Gesellschaften immer größer und die Polizei wird vielerorts als Hüterin dieser ungleichen Ordnung begriffen. Wenn sie dann noch Jugendliche erschießt, sich ihre Schutzfunktion also umkehrt und sie sich in einer Art rechtsfreiem Raum bewegt, muss die Frage nach der Verhältnismäßigkeit gestellt werden: Wie schwer werden Protestler, Marginalisierte, aber auch normale Bürger bestraft und wie sehr werden die Interessen jener geschützt, die sich in Machtpositionen befinden? Und wie schwer werden letztere, wenn überhaupt, für Vergehen am Allgemeinwohl bestraft?

Im Sommer 2011 jagte eine Londoner Polizeistreife während einer gewöhnlichen Kontrollfahrt einem „verdächtigen“ Taxi hinterher, das die Aufforderungen, anzuhalten, überhört hatte. Als die Polizisten das Feuer auf das Taxi eröffneten, wurde einer der Fahrgäste, Mark Duggan, getötet. Laut polizeilicher Aussage war Duggan durch Vorstrafen bekannt. Wie in Griechenland bewirkte dieser Tötungsakt eine Protestwelle, wie sie England seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatte: Es wurde geplündert, Geschäfte standen in Flammen, Polizei und Aufständische lieferten sich Straßenschlachten. Die Proteste dauerten nur wenige Tage an, doch warfen sie noch geraume Zeit ihre Schatten auf die englische Gesellschaft.

Dass polizeiliche Gewalt nur gegenüber bestimmten Gruppen der Gesellschaft angewendet wird, ist nicht ganz untypisch. In der Regel ist die Polizei die einzige Einrichtung des modernen Staates, die zum Einsatz von Gewalt gegenüber Individuen der Zivilgesellschaft berechtigt ist, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie soll so die Institutionen eines Staates, sein Eigentum sowie die übrigen Bürger und deren Besitztümer schützen. Allerdings wendet die Polizei die Pflicht zu schützen gegenüber den Bürgern nicht durchgängig an. Oft begnügt sie sich mit Drohungen, sie verbreitet Angst vor möglicher Gewalt. Die erwähnten Proteste zeigen jedoch, dass die Angst vor polizeilicher Gewalt oder ihre Androhung in der Beziehung zwischen Bürgern und Polizei nicht mehr ausschlaggebend sind.

Die öffentliche Präsenz der Polizei reicht nicht mehr aus, um dem Bürger Angst einzujagen, ihn so weit maßzuregeln, dass er sich selbst kontrolliert. Der Grund für das Verschwinden dieser Angst ist nicht etwa, dass die Menschen mutiger geworden sind. Viel eher kann die Polizei in der heutigen Zeit die Bürger nicht mehr durch Angst kontrollieren. Grundlegend für die Kontrolle ist die Wertschätzung der Polizei durch die Bürger. Das legt auch die Geschichte des Taxifahrers aus Ramallah nahe, bei der es um das Vertrauen in diejenigen geht, die den Auftrag haben, dem öffentlichen Wohl zu dienen. Sobald dieses Vertrauen nicht mehr gegeben ist und die Bürger das Gefühl haben, die Polizei ziehe eine Seite der anderen vor, zumeist die der Reichen und Regierenden, kann es zur Explosion kommen. So ist es in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern geschehen, wie jüngst in den Vereinigten Staaten bei Zusammenstößen in Ferguson und St. Louis. Nachdem mehrfach unbewaffnete Afroamerikaner erschossen wurden, kochte die Wut über das unverhältnismäßige Vorgehen der Polizei über. Wie wandelte sich die Polizei also von einer Einrichtung im Dienst des öffentlichen Wohls zu einer, die oft skandalös und schamlos dem Wohl bestimmter Bevölkerungsgruppen dient?

Die Polizei ist ein Abbild des Regierungssystems, das ihre Aufgaben festsetzt. Die veränderte Rolle der Polizei resultiert aus den Veränderungen, die während der letzten Jahrzehnte den Staatsbegriff umwälzten und den Staat zu einer politisch-ökonomischen Institution machten, deren herausragendes Ziel der Profit ist. Das wird in der Folge der Wirtschaftskrise von 2008 deutlich. Einige Regierungen mischten sich in die Steuerung der Staatsökonomie ein und retteten sogar einige Banken und Unternehmen vor der Insolvenz, indem sie sie mit Mitteln aus der Staatskasse aufkauften.

Diese Verschiebung hatte zur Folge, dass die ökonomische Frage eine politische und ein Teil der Befugnisse des Staates wurde. Dieser Prozess begann eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Der Wiederaufbau des Landes war ein materieller und ein moralischer zugleich, meinten viele Intellektuelle, allen voran Michel Foucault in seiner Vorlesungsreihe „Die Geburt der Biopolitik“. Man übernahm das Modell des liberalen Staates, zu dessen Hauptaufgaben die Kontrolle und Ausführung eines Wirtschaftsplans gehörte, der das Land nach seiner Kriegsniederlage der allgegenwärtigen Zerstörung entreißen und gleichzeitig jede Verbindung zur Politik des Nationalsozialismus trennen sollte. Auf diese Weise verhalf die Übernahme des neoliberalen Regierungsmodells Deutschland zur Rückkehr in den europäischen Reigen. Allerdings war das Land mehr eine wirtschaftliche als eine politische Macht, was zur Aussöhnung der Gesellschaft und Überwindung der jüngsten Vergangenheit einschließlich der Verantwortung der Deutschen für das, was sie getan hatten, beitrug.

Das System des Neoliberalismus sieht das Individuum als Unternehmer, dessen Hauptanliegen sein eigenes Wohl ist. Der Egoismus des Einzelnen ist die Triebfeder beim Einsatz für das öffentliche Wohl; nicht umgekehrt, setzt sich der Einzelne für das Wohl aller ein und daduch geht es ihm gut. Die Umsetzung dieses Modells in Deutschland war musterhaft für das neoliberale System in Frankreich, Amerika, Großbritannien und andernorts. Zu den wichtigsten Veränderungen, die es für Staatsapparate und die zwischenstaatlichen Beziehungen bewirkte, gehört der Verlust der zentralen Rolle des Militärs bei der Bestimmung und Organisation der zwischenstaatlichen Beziehungen. An deren Stelle traten vor allem auch wirtschaftliche Beziehungen. Diese zu schützen und zu gewährleisten oblag fortan dem Polizeiapparat, weswegen Sicherheit heute in ökonomischer Hinsicht beurteilt wird. In Europa steht anstelle der Kriege, die die Staaten bis zum Zweiten Weltkrieg gegeneinander führten, heute die Kooperation der Polizeiapparate untereinander und mit den Geheimdiensten – beispielsweise zur Terrorismusbekämpfung.

Im Neoliberalismus wird auch die Polizei als Unternehmen betrachtet. Ihre Privatisierung läuft in vielen Staaten schon seit Jahren. Ihre Verwaltungen wurden in Privatunternehmen verwandelt, denn sie wurden verpflichtet, möglichst Profit zu erwirtschaften oder zumindest keine finanziellen Verluste zu machen, nicht nur zum Schutz der gewinnbringenden Institutionen und des Marktes. Vor diesem Hintergrund kann man sich leicht vorstellen, welche Rolle der Polizei nach Meinung der Bevölkerung, vor allem der Randgruppen, zukommt. Wenn eine Gruppe Jugendlicher in Griechenland die Polizei angreift oder der Karren eines tunesischen Gemüsehändlers, die einzige Quelle für seinen Lebensunterhalt, beschlagnahmt wird oder ein Kleinkrimineller in London von der Polizei gejagt wird, gehen Hunderttausende auf die Straße, um gegen die Polizei zu demonstrieren. All dies ist direkter Ausdruck des Wandels, den die Bürger in der Rolle der Polizei sehen und in der Rolle des Staates wie auch in dessen Form der Herrschaft, die vor allem dem Wohl der Wirtschaftseliten zugutekommt.

Dabei kann man das Niederbrennen von Geschäften und die Plünderungen wie in London als Reaktion gegen die Gewalt des Staates betrachten; eines Staates, von dem die Menschen glauben, dass die Polizei ihm mehr dient als ihnen. Das Plündern rührt von der gleichen Wurzel her: jenem Wandel in der Natur des Politischen, das nunmehr das Ökonomische beinhaltet und nicht davon, dass die Demonstranten zynisch, egoistisch und kleinkriminell seien und den Werteverfall der Gesellschaft anzeigten, wie manche behaupteten. Dass der Fokus allein auf die ökonomische Dimension dieser Aufstände gerichtet war, die als Akte der Diebstahls und des Vandalismus bezeichnet wurden, welche eine höhere Polizeipräsenz erforderten, anstatt auf das zu hören, was die Demonstranten zu sagen hatten, zeigt, wie besessen der Staat von der Wichtigkeit der Wirtschaft ist.

Polizeigewalt gegen den Bürger zugunsten der ökonomischen Eliten wird es weiterhin geben. Gewiss wird das auch weiter zu künftigen Protesten beitragen. Vielleicht wird ihre lodernde Flamme nachlassen, doch wenn sich die Regierungspraktiken und Methoden der Staaten nicht ändern, wird diese Flamme nicht verschwinden. Man wird die Veränderungen direkt auf der Straße wahrnehmen, nämlich daran, wie die Polizei – die Augen des Staates auf Erden – sich in Zukunft verhält.

Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell