Langsamkeit

Die Stadt meiner Kindheit

Warum Nairobi nie ein Ort der Hektik und der Hetze war

Als ich klein war, lebten wir auf dem Land in Limuru in Zentralkenia auf einer Farm. Die fünfzig Kilometer entfernte Hauptstadt Nairobi kam mir vor wie die große weite Welt, die wir gelegentlich besuchten, um Kleidung zu kaufen und ins Kino zu gehen.

An diesen ereignisreichen Tagen weckte mich mein älterer Bruder Nducu schon früh. Ich nahm ein Bad, zog meine Sonntagskleidung an, rieb mein Gesicht mit Vaseline ein, bis es glänzte, und polierte meine schwarzen Schuhe. Der Feldweg, der zur Hauptstraße führte, sorgte schnell dafür, dass sie wieder staubig und schmutzig wurden.

Im „Matatu“, dem Sammeltaxi, plärrten westliche Hits aus den Lautsprechern: „The Gambler“ von Kenny Rogers, „Thriller“ von Michael Jackson oder „Ghost Busters“ von Ray Parker. In dieser Zeit wurde es zur Manie, die Fahrzeuge des öffentlichen Nahverkehrs kreativ umzudekorieren. Die beliebtesten Matatus kamen wie fahrende Discos daher – in leuchtenden Farben bemalt und mit Hunderten kleiner Discolichter an Karosserie und im Wageninneren.

Wenn wir in Nairobi ankamen, musste ich mir immer Nducus Ermahnungen anhören: „Sollten wir uns verlieren, dann suche nicht nach mir. Bleib, wo du bist, und ich werde dich finden.“ So gerüstet, stürzten wir uns in die hektischen Menschenströme, er immer einen Schritt voraus, ich in seinem Schlepptau, während wir uns einen Weg durch die Menge bahnten.

Ab und zu brachen wir aus dem Gewühl aus und betraten ein Schuh- oder Bekleidungsgeschäft. Wenn wir einen preiswerten Laden fanden, begann die richtige Arbeit. Wir nannten es „handeln“, aber „feilschen“ trifft es eher. Mein Bruder war Meister darin: Mache ein lächerlich niedriges Angebot und feilsche dich dann zu einem annehmbaren Preis hoch.

Er kannte noch andere Tricks: Oft, sagen wir mal, „belohnte“ er den Verkäufer mit einem Zwanzig-Schilling-Schein, wenn dieser das Preisschild vertauschte, sodass die teure Jeans nur noch so viel kostete wie die billigste Hose im Laden. Ein paar Jeans und Schuhe zu kaufen, dauerte deshalb oft den ganzen Vormittag. Es war wie ein großes Fest, das wir mit einem Mittagessen in Nairobi krönten, bevor wir heimfuhren: Würstchen und Pommes frites, so lecker, dass ich ihren Geschmack noch spüre, während ich das hier schreibe.

Und dann waren da noch die Filme in Nairobi. In Limuru gab es kein richtiges Kino, nur gelegentlich Open-Air-Kinoveranstaltungen am Abend, bei denen man sich der Gefahr aussetzte, von den bösen Buben im Dorf mit faulen Eiern beworfen zu werden. Doch in Nairobi habe ich sie alle gesehen: Die James-Bond-Filme „Octopussy“ und „In tödlicher Mission“, den US-amerikanischen Hip-Hop-Film „Breakin’“ und so ziemlich jeden Film mit Bruce Lee.

Manchmal gingen unsere Ausflüge nach Nairobi auch schief. Als ich etwa elf Jahre alt war, nahm mich  mein Bruder einmal mit, um den Film „Gandhi“ anzuschauen. Doch sie hatten die Preise für die Kinotickets erhöht und wir hatten nicht genug Geld dabei. So reichte es nur für Würstchen und Pommes frites, bevor wir uns auf den Heimweg machten.

Jedes Jahr fuhr unsere ganze Familie zur Landwirtschaftsausstellung in den Jamhuri-Park in Nairobi. Hier zeigten die Bauern das Beste, was sie hatten: riesige Kühe und Bullen, den neuesten Traktor und andere Landwirtschaftsmaschinen. Und es gab Akrobaten. Aber worauf ich mich am meisten freute, das waren Eis und Zuckerwatte und die klebrigen Finger, die mich den ganzen Tag an diese Leckereien erinnern würden.

Als Teenager bestand Nairobi für mich aus mehr als nur Filmen und Geschäften. Es wurde zu dem Ort, an dem wir feierten und uns verliebten. Ich stahl mich mit meinen Freunden davon aus unserem Internat in Kiambu, wir bestiegen ein Matatu nach Nairobi, trafen uns mit Mädchen und gingen in die Bars und Discos. Manchmal spazierten wir auch durch den Uhuru-Park.

1989 geriet dieser Park in die internationalen Schlagzeilen, weil Diktator Daniel arap Moi dort ein sechzig-stöckiges Hochhaus errichten und den Park so dem zentralen Geschäftsviertel einverleiben wollte. Wangari Maathai, die im Jahr 2004 den Friedensnobelpreis erhielt, organisierte den Protest dagegen, der schließlich erfolgreich war und das Vorhaben zum Erliegen brachte.

In dem Jahr darauf protestierte im Uhuru-Park die Saba-Saba-Bewegung für mehr Demokratie. Das Swahili-Wort „saba“ bedeutet „sieben“ und steht für den 7. Juli 1990, den Tag, an dem die Proteste gegen das Regime begannen, die Diktator Moi schließlich in die Knie zwangen. Ein paar Monate vor diesem Tag war ich zum Studium in die USA aufgebrochen. Es hatte sich angefühlt wie eine Flucht. Mein Nairobi war für mich aber nie ein politischer Ort. Als Kind blieb es für mich das ferne schöne Land der Filme und des Shoppings.

Aber die Stadt konnte auch erbarmungslos sein. Da schreit jemand „Dieb!“ und zeigt mit dem Finger auf einen anderen. Der Verdächtige, der sich manchmal als unschuldig erweist, rennt um sein Leben, doch es gibt kein Entrinnen: Der aufgebrachte Pöbel lässt sich nicht stoppen. Aus den Männern und manchmal auch Frauen wird schnell eine Bürgerwehr. Steine werden geworfen, Blut fließt, die Polizei erscheint als Retter, manchmal jedoch zu spät. Mein Bruder versuchte immer, mich davon fernzuhalten, aber Selbstjustiz war so allgegenwärtig, dass es unmöglich war, Kindern den Anblick zu ersparen. Das Grauen war einfach alltäglich.

Doch wie ich es geliebt habe, nach Nairobi zu fahren! Ich fühlte mich dort so erwachsen. Heute kann ich dem Trubel von Städten allgemein nicht mehr viel abgewinnen. Auch New York, wo immer alle so geschäftig tun, kann ich nicht leiden. Aber als Kind gab es nichts, wonach ich mich mehr sehnte: die vielen Männer und Frauen, die ständig zwischen ihren Büros und Wohnungen hin- und herhetzen; der Verkehr, Stoßstange an Stoßstange; das Gehupe, das Marktgeschrei der Straßenhändler, der ganze Chor der Stadt, die niemals ruht. Und am allerbesten: der Triumph,   das alles überlebt zu haben und als Trophäen neue Anziehsachen und Schuhe nach Hause zu tragen.

Während ich diesen Text schreibe, sitze ich in einem Café in Connecticut. Der Winter will nicht enden und vor der Tür erwartet mich dreckiger Schnee und Kälte. Heute ist Nairobi für mich hauptsächlich Inspiration für meine Geschichten. In meinen Romanen „Nairobi Heat“ und „Black Star Nairobi“ ist es eine Stadt der Gegensätze, in der extremer Reichtum und Armut, Gewalt und Liebe Tür an Tür leben und sich gegenseitig verstärken. Die Schönheit und Menschlichkeit der Stadt ist fortwährend durch mächtige Interessen und geldgierige Politiker bedroht.

In diesem Juni werde ich wieder mit meiner Familie nach Kenia reisen, aber dieses Mal nicht wegen der Landwirtschaftsmesse, sondern um meinen Vater Ngugi Wa Thiong’o, meine Brüder Nducu und Tee und meine Schwester Wanjiku zu treffen. Allesamt sind wir Schriftsteller und begeben uns auf eine Familienlesereise nach Nairobi, nach Limuru und an andere Orte.

Und wieder werde ich meine besten Sachen anziehen, meine Schuhe polieren und mein Gesicht eincremen, bis es leuchtet und glänzt.

Aus dem Englischen von Karola Klatt