Acht Stunden Zeit für Kultur
Warum das Leben in Kroatien ohne Marktwirtschaft schöner war
Es ist eine bekannte und bedauernswerte Tatsache, dass dem Menschen der Wert vieler Dinge erst dann bewusst wird, wenn er sie verliert. Kroatiens Übergang vom kommunistischen Einparteiensystem und der sozialistischen Ökonomie zu einem Mehrparteiensystem und der freien Marktwirtschaft, die sich im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts abspielte, ist von vielen Verlusten begleitet worden. Ein Verlust, dessen sich die Bürger am wenigsten bewusst sind und über den man deshalb beinahe gar nicht spricht, ist der Verlust der Muße und der eigenen Zeit. Doch genau das ist die wichtigste Ressource, über die wir verfügen und die uns als Menschen ausmacht. Genauer gesagt, als freie Menschen.
Im sozialistischen Jugoslawien war der Arbeitstag gut ausbalanciert: acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung, acht Stunden kulturelle Bildung. Die Arbeitswoche betrug in der Regel fünf Tage. Der Mensch war Mehrheitseigner der eigenen Zeit, er konnte Muße genießen und seine Zeit der Familie, den Freunden und sich selbst widmen. Obwohl die acht Stunden für kulturelle Bildung tatsächlich eher eine Parole als Praxis waren und obwohl ebendiese acht Stunden auf allerlei andere Dinge verwendet wurden und gerade nicht für kulturelle Bildung, bleibt doch die Tatsache, dass der arbeitende Mensch diese Zeit zur freien Verfügung hatte.
Die durchschnittlichen Gehälter im Sozialismus waren nicht sehr hoch, doch das störte kaum jemanden, da die Arbeitsplätze sicher waren und die Löhne regelmäßig ausgezahlt wurden. Einer der häufigsten Sprüche damals war: „Man kann mir gar nicht so wenig bezahlen, wie wenig ich arbeiten kann.“ Einem Arbeiter konnte nur nach wiederholten groben Verletzungen der Arbeitsdisziplin gekündigt werden. Das war ein Privileg der sozialistischen Ökonomie, die weder vom Markt reguliert noch vom Profit angetrieben wurde – ihr Sinn bestand in der Sicherung der Vollbeschäftigung und der Befriedigung der allgemeinen Bedürfnisse der Gesellschaft. All das ermöglichte eine gewisse Gelassenheit, eine Art Sorglosigkeit als prägende gesellschaftliche Atmosphäre. Der Alltag war von Langsamkeit gekennzeichnet, egal ob es sich um das Geschäfts- oder das Privatleben handelte. Die Tatsache, dass Kroatien zu einem Teil auch ein mediterranes Land ist, gab all dem noch eine zusätzliche Färbung. Stress war ein beinahe unbekannter Begriff und Eile kannten nur die, die sehr ambitioniert waren.
Die Beschleunigung ergab sich mit dem Wechsel der Gesellschaftsordnung. Und was für eine Beschleunigung! Noch immer kann ich nicht begreifen, was eigentlich geschehen ist. Niemand konnte die Unabhängigkeit und die Demokratie, die angestrebt wurden, in Verbindung bringen mit dem furchtbaren gesellschaftlichen Absturz, der dann folgte. Der blitzartige Übergang zur Marktwirtschaft und zum Kapitalismus, in dessen Fokus der Profit steht und nicht die Bedürfnisse der Menschen, führte dazu, dass die alten Gesellschaftsverträge aufgekündigt und die Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft zerstört wurden. Die Zerstörung der sozialistischen Wirtschaft brachte den Verlust von Arbeiterrechten und Hunderttausenden von Jobs. Für jene, die Glück hatten und ihre Stellen behielten, ist der Achtstundentag heute nur noch ein Traum. Der Arbeitstag dauert häufig vom Morgen bis zum Abend, die Gehälter der Mehrheit der Arbeitenden können die Grundkosten nicht mehr decken, und die Arbeitslosen befinden sich in andauernder nervöser Suche nach Mitteln und Wegen zum Überleben.
Die Beschleunigung ist in Kroatien überall zu spüren. Auf der Straße, in Cafés und Restaurants, in den Geschäften, an den Tankstellen. Die Eile, die Unsicherheit und die Nervosität sind zu beherrschenden Merkmalen des Alltags geworden.
Früher wartete man ewig auf einen Kellner. Man beobachtete ihn, wie er an einem Fenster stand und verträumt irgendwohin blickte oder sich freundschaftlich mit einem Gast an der Theke unterhielt. Auch man selbst hatte es nicht eilig. Man war nicht gekommen, um auf die Schnelle ein Mittagessen einzuwerfen oder einen Kaffee herunterzukippen, sondern man wollte das Essen und den Kaffee genießen. Wenn man den Eindruck hatte, dass der Kellner seine Gelassenheit etwas übertrieb, erinnerte man ihn daran, doch bitte zu kommen, die Bestellung aufzunehmen und den überfüllten Aschenbecher zu leeren. Heute taucht der Kellner neben einem auf, bevor man sich hingesetzt, geschweige denn ausgewählt hat. Den Aschenbecher leert er jedes Mal, nachdem man Asche hat fallen lassen, er treibt sich ununterbrochen um den Tisch herum und erkundigt sich, ob man zufrieden sei, ob es schmecke und ob man noch etwas wünsche. Von entspanntem Genießen kann keine Rede mehr sein. Oder man kauft etwas im Supermarkt, und der Kassierer schiebt die Waren mit der Geschwindigkeit eines Zauberers über das Barcode-Lesegerät, wobei er einen gleichzeitig mit einer Reihe Superangeboten traktiert, die an der Kasse feilgeboten werden. Und sobald man bezahlt hat, stürzt er sich auf ein neues Opfer.
Wo immer man kann, stiehlt man uns rücksichtslos die Reste unserer freien Zeit, sodass man heute viele Dinge allein erledigen muss, die früher irgendwelche Angestellten erledigten, und diese waren Teil der Leistung, die man bezahlte. Zum Beispiel die automatischen Kassen in den Supermärkten. Oder die automatischen Tankstellen. Und die Dinge, die man dergestalt kauft, sind nicht günstiger. Früher haben Angestellte die Autos betankt, wobei man sich mit ihnen über dies und das unterhalten konnte. Heute macht man es selbst, und wenn es ans Bezahlen geht, versucht der Mitarbeiter einem ein Schokolädchen, ein Messer, eine Axt, eine Jacke, eine Taschenlampe, Nordic-Walking-Stöcke oder eine Schneeschaufel anzudrehen – und all das zu einem sehr günstigen Preis, anstatt sich mit einem zu unterhalten.
Die Samstage und Sonntage, einst die Tage für Ausflüge und für Besuche bei der Verwandtschaft und bei Freunden, für Theater, Konzerte und Kino, oder einfach, um eine Auszeit zu genießen, sind heute Arbeitstage oder Tage, an denen man die Einkäufe erledigen muss, da man es unter der Woche nicht schafft. Jede Entschleunigung, sowohl im Arbeits- wie auch im Privatleben, wird als Mangel der Produktivität, als illoyales Verhalten der Firma gegenüber oder einfach als Faulheit gedeutet.
Und wenn man nach all diesem irrsinnigen Herumhetzen doch den Wunsch verspürt, alte Freunde und Bekannten zu treffen, und diese dann anruft, bekommt man als Antwort: „Ich habe keine Zeit.“ Oder: „Ich schaffe es nicht, ich habe es schrecklich eilig, tut mir leid.“ Eigentlich ist doch bekannt, wer nicht über die eigene Zeit verfügt – Gefangene und Sklaven. Wer ist also tatsächlich der Herrscher über unsere Zeit?
Als geistige Wesen müssten wir begreifen können, dass die Eile nichts anderes bedeutet, als dass das Ziel, auf das wir zustreben, sich nicht in uns befindet. Etwas außerhalb seiner selbst zu suchen heißt es eilig zu haben. Zur Eile treibt uns etwas anderes oder jemand anderer, aber nicht unsere wahren Bedürfnisse. Muße und Langsamkeit sind die Privilegien einer aufgeklärten Minderheit, die ein einfaches Leben und freiwillige Armut praktiziert, während wirtschaftliches Wachstum und Steigerung des Konsums die Mantras jener darstellen, die das Schicksal der Welt in ihren Händen halten.
Früher glaubte man, dass hoch entwickelte Technologien den Menschen von überflüssiger Arbeit befreien würden, dass sie freie Zeit schaffen würden für seine geistigen, intimen und anderen Bedürfnisse. Heute leben wir in einer Epoche faszinierender höchstentwickelter Technologien. Diese haben allerdings nicht den Menschen von überflüssiger Arbeit befreit, sondern sie haben ihn überflüssig gemacht.
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer