Volle Kraft voraus

Deutsche Politiker sprechen sich für eine stärkere Beteiligung an militärischen Einsätzen im Ausland aus. Deutschlands Partner erwarten schon länger ein stärkeres deutsches Engagement

Der in den Medien veröffentlichte Aufruf von Bundespräsident Joachim Gauck, Deutschland solle bei militärischen Einsätzen im Ausland eine größere Rolle spielen, wirkt in Europa - und darüber hinaus - immer noch nach. Zugleich mehren sich die Spekulationen, ob Berlin nun zusammen mit seinen Nato-Partnern in eine neue Epoche der aktiven internationalen militärischen Beteiligung eintreten wird. Als Europas bevölkerungsreichste und größte Wirtschaftsmacht wird Deutschland in der Welt aufmerksam beobachtet.

Berlins zentrale Rolle bei der Bewältigung der Eurokrise hat das internationale Interesse weiter gesteigert. Weil der Bereich globale Sicherheit immer komplexer wird, auch in Europas Nachbarschaft - wie die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine zeigen -, rückt auch die deutsche Verteidigungs- und Sicherheitspolitik stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Deutschlands Partner verfolgen genau, wie sich der Prozess des Umdenkens in der deutschen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik entwickelt, sowie auch die langsame, aber stetige Transformation der Bundeswehr von einer rein defensiven Macht hin zu einer Armee, die an Auslandseinsätzen der Vereinten Nationen und Europas teilnimmt. Seit die deutsche Regierung bei der Intervention in Somalia 1993 erstmals Truppen eingesetzt hat, ist die Präsenz deutscher Soldaten bei Sicherheitseinsätzen inzwischen ein Fait accompli. Die Bundeswehr trägt aktuell mit am meisten zu internationalen Friedensmissionen bei. Dies war jedoch kein leichter Prozess; er löste eine intensive Gewissensprüfung aus und breiten öffentlichen Widerstand.

Nato, USA und EU hoffen, dass Berlin über die Führungsrolle hinaus, die es in der Eurokrise übernommen hat, seine Zurückhaltung ablegt und beim Thema Verteidigung eine stärkere und weniger kampfunwillige Haltung einnimmt. Es ist kein Geheimnis, dass Deutschlands Partner öffentlich und noch mehr im Privaten oftmals verzweifelt sind angesichts von Berlins Zurückhaltung, in den bislang recht bescheidenen militärischen Einsätzen der EU eine bedeutendere, weniger risikoscheue Rolle zu übernehmen.

Die Stellungnahme von Bundespräsident Gauck und die darauf folgende ähnliche Äußerung von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen werden deshalb als Schritt in die richtige Richtung gesehen und als lang ersehntes Zeichen dafür, dass Berlin endlich aus seiner antimilitärischen Nachkriegsstimmung herauskommt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat kürzlich hervorgehoben: "Deutschland ist eigentlich zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren." Verglichen mit seinem Vorgänger Guido Westerwelle hat er eine politische Kehrtwendung vollzogen. Westerwelle hatte sich 2011 gemeinsam mit Brasilien, Russland und China gegen einen US-Einsatz in Libyen gestellt, obwohl Frankreich und Großbritannien diesen unterstützten.

Derzeit engagiert sich Frank-Walter Steinmeier gemeinsam mit seinen französischen und polnischen Amskollegen intensiv in der Ukraine-Krise. Zwar befürwortet er mittlerweile auch Sanktionen gegenüber Russland, setzt aber weiterhin auf Gespräche, um einen Militäreinsatz zu vermeiden. Gaucks Aufruf zu mehr deutschem Engagement erfolgte nur wenige Wochen, nachdem die EU-Regierungschefs im Dezember 2013 zum ersten Mal seit fünf Jahren über Verteidigung und Sicherheit der Europäischen Union debattierten. Seine Worte weckten Hoffnungen auf eine stärkere deutsche Unterstützung für eine neue Epoche der aktiveren und wirksameren europäischen Verteidigung. Während die Fortschritte beim Aufbau einer gemeinsamen europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik weiterhin quälend langsam verlaufen und die Ausgaben für Verteidigung in Europa schrumpfen, drängen die Gewalt und das Blutvergießen in Zentralafrika und die Ereignisse in Mali die EU dazu, ihre militärische Präsenz in Afrika zu erhöhen, um die französischen Truppen und die Soldaten der Afrikanischen Union zu unterstützen. Die unberechenbare Situation in Europas unmittelbarer Nachbarschaft, in der Ukraine, wird den Druck für eine stärkere EU-Verteidigung erhöhen.
Deutschland-Beobachter wissen jedoch: Die neue Rhetorik ist zwar beeindruckend, aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Es bleibt abzuwarten, ob Berlin seine Haltung zum Thema Verteidigung tatsächlich drastisch verändern wird. Von Worten zu Taten zu schreiten, wird nicht einfach - nicht zuletzt deshalb, weil die öffentliche Meinung in Deutschland nach wie vor misstrauisch gegenüber Auslandseinsätzen ist und die Zweifel anderer Europäer wie der Spanier und Franzosen an der Effektivität gewaltsamer Mittel teilt. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die immer sehr gezögert hat, sich an Debatten über Sicherheit zu beteiligen, und die im Laufe der vergangenen neun Jahre eine Politik militärischer Zurückhaltung verfolgte, hat sich interessanterweise zu diesem Thema nicht geäußert. Dazu kommt: Mögen von der Leyen und Gauck auch darüber gesprochen haben, die Zahl der Soldaten im Ausland zu erhöhen, so nahm jedoch in alter deutscher Tradition keiner von beiden auf die weitaus wichtigere Frage Bezug, ob sie dort auch kämpfen dürfen. Obwohl sich die deutsche Verteidigungsministerin für die Ausbildung einer europäischen Verteidigungsidentität ausgesprochen hat und meint, dass gemeinsame Streitkräfte eine "logische Folge einer immer stärkeren militärischen Zusammenarbeit in Europa" seien, hat sie gleichwohl die langjährige deutsche Sichtweise wiederholt, dass Armeen vom Parlament eingesetzt werden, nicht durch die Exekutive.
Trotz allem besteht kein Zweifel daran, dass sich in Deutschland die Debatte über Verteidigung verändert. Sicher, es wird nicht leicht sein, eine skeptische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass deutsche Streitkräfte aktiver an Auslandseinsätzen teilnehmen sollen, insbesondere nicht in einer Zeit, in der angesichts der Tötung deutscher Soldaten in Afghanistan die öffentliche Wut darüber wächst. Im Politikbetrieb ist man sich jedoch immer bewusster, dass in einer sich schnell verändernden, vernetzten und globalisierten Welt mit wachsenden und vielfältigen Herausforderungen für die Sicherheit - einer Welt, in der Ereignisse in einer Region sich nahezu unmittelbar auf Ereignisse in anderen Regionen auswirken können - Deutschland nicht länger nur der interessierte Zuschauer sein kann.

Erstens wird es Berlin immer schwerer fallen, sich dem Druck und den Appellen seiner Nato- und EU-Partner, sich stärker militärisch zu beteiligen, zu widersetzen. Während die USA, erschöpft durch jahrelange Auslandseinsätze, immer mehr zögern, weiterhin als Weltpolizei zu agieren, ist es nun immer mehr Sache der EU, ihren Teil der globalen Bürde auf sich zu nehmen, Frieden und Sicherheit international zu sichern. Dies zeigt sich am offensichtlichsten darin, dass sich die USA auf den asiatisch-pazifischen Raum konzentriert. Das wiederum erhöht den Druck auf die EU, sich stärker als zuvor in den Ländern ihrer Nachbarschaft zu engagieren.

Frankreich und Großbritannien, die stärksten - und aktivsten - Militärmächte der EU, haben inzwischen deutlich gemacht, dass sie von Deutschland erwarten, in Zukunft aktiver zu sein. Zudem kann es politischen Entscheidungsträgern in Berlin wie auch ihren Kollegen in London nicht gefallen haben, die sich intensivierende Partnerschaft zwischen Washington und Paris zu beobachten und zu hören, wie Präsident Barack Obama Frankreich beschreibt als "vorbildhaften Verbündeten, der willens ist, die gemeinsame Last zu tragen, damit die Welt sicher bleibt".

Zweitens: Da sich das Wesen der globalen Sicherheit im 21. Jahrhundert verändert, da die Sicherheit der Menschen zu einer drängenderen Herausforderung wird, es neuartige Bedrohungen durch nicht staatliche Akteure gibt und sich humanitäre Krisen, Terrorismus und Extremismus als bedeutende und häufigere Gefahr erweisen als herkömmliche Kriege, können deutsche Politiker mit einiger Rechtfertigung behaupten, dass Deutschland sich im Interesse der nationalen und globalen Sicherheit diesen Herausforderungen stellen muss. Verantwortung zu übernehmen bedeutet, wie Gauck vor Kurzem kommentierte, dass Militäreinsätze als letztes Mittel genutzt werden können.

Ein ähnliches Argument wurde 1999 angeführt, bevor die Nato anfing, Serbien zu bombardieren. Damals sagte der frühere grüne Außenminister Joschka Fischer trotz des traditionellen Bekenntnisses seiner Partei zu Pazifismus und Frieden, dass Deutschland gerade wegen seiner Vergangenheit die Verantwortung habe, zu agieren und Gewalt einzusetzen. Der Kosovo-Krieg markierte die Akzeptanz von Deutschlands vollwertiger Teilnahme am Weltgeschehen. Fischers Chef, der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder, schreibt in seinen Memoiren: "An der Schwelle zum 21. Jahrhundert schien mir die wahre Herausforderung nicht nur darin zu bestehen, die jüngsten Feuer auf dem Balkan zu löschen, sondern darin, Frieden in die Region zu bringen. Das Ziel war ausschließlich humanitärer Natur."

Drittens wird die veränderte Stimmung der Politiker in Deutschland zweifellos die Debatte der kommenden Monate prägen. Die Tatsache, dass die neue konservativ-sozialdemokratische Koalition starken Rückhalt im Bundestag hat, wird es der Regierung wahrscheinlich erleichtern, die bisherige Politik zu verändern - auch in puncto Verteidigung. Tatsächlich hat der Bundestag gerade entschieden, Deutschlands Truppenkontingent in Mali zu erhöhen - um siebzig auf insgesamt 250 Soldaten - als Teil der gemeinsamen EUTM Mali (European Union Training Mission). 526 Parlamentarier stimmten für diesen Schritt, 61 waren dagegen. Die 104 deutschen Soldaten, die gerade in Mali stationiert sind, konzentrieren sich darauf, Angehörige der lokalen Regierungstruppen zu trainieren und auszubilden, sowie auf die Beratung von Leitern und Vertretern des Verteidigungsministeriums in Mali.

Zudem stellt die Bundeswehr Mediziner zur Verfügung. Der Bundestag hat zugestimmt, Deutschlands Beteiligung an der von der Nato geführten ISAF-Mission in Afghanistan auszuweiten. Obschon die Präsenz der deutschen Truppen im Land von 4.400 auf etwa 3.000 verringert worden ist, sollen immer noch 800 deutsche Soldaten weiter im Land aktiv bleiben, indem sie nach dem Rückzug der Kampftruppen Ende 2014 Unterstützung in Form von Training anbieten. Interessant ist auch, dass eine von der neuen Regierung gebildete Kommission sich mit möglichen Änderungen des Gesetzes befasst, das die Rolle des Bundestags bei der Entsendung deutscher Truppen ins Ausland festlegt. Die Debatte erkennt an, dass Deutschlands volle Teilnahme an der Bündelung und Aufteilung von Aktivitäten in der Nato und in der EU erfordert, dass beide Organisationen mit einem kontinuierlichen deutschen militärischen Engagement rechnen können.

Gleichzeitig mehren sich entsprechende Bedenken, seit Deutschland 2011 entschieden hat, sich bei der Abstimmung über die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrats, die eine Flugverbotszone über Libyen genehmigen sollte, zu enthalten. Dieses Vorgehen wurde zum Teil heftig kritisiert als Bruch mit der Einheit des Westens und der EU. Deutschland wurde inkonsequentes Verhalten vorgeworfen. Andere Schritte Deutschlands wurden jedoch von den Partnern begrüßt. Die Nato und die EU haben aufmerksam verfolgt, dass sich die Bundeswehr von einer Streitmacht Wehrpflichtiger in eine Berufsarmee verwandelt hat, gleichwohl mit reduziertem Personal (sie besteht nun aus 185.000 statt 240.000 Menschen).

Dieser Schritt wird als Transformation der Bundeswehr in eine agilere Expeditionsstreitmacht nach dem Vorbild der Streitkräfte anderer NATO-Länder gesehen. Gleichzeitig wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dass im Falle einer Attacke "katastrophalen Ausmaßes", etwa eines Terroranschlags in einer Stadt, Soldaten auf deutschem Territorium eingesetzt werden können, ebenso als Schritt in die richtige Richtung gesehen - wie auch die allmähliche Aufhebung von "Vorbehalten", die bestimmen, was deutsche Soldaten in Afghanistan tun dürfen.

Im Februar 2010 gab der damalige Außenminister Guido Westerwelle der Bundeswehr mehr Freiheit, indem er den afghanischen Krieg als "bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts" neu klassifizierte, um so deutschen Soldaten in Afghanistan zu ermöglichen, ohne Angst vor einer strafrechtlichen Verfolgung bei ihrer Rückkehr zu agieren. Deutschlands Engagement für die Verteidigung der Europäischen Union scheint stärker zu werden. In einer gemeinsamen Erklärung vom Juli 2013 bestanden die französischen und deutschen Außenminister darauf, dass die EU inmitten "asymmetrischer Bedrohungen" eine "stärkere Verantwortung für Frieden und Sicherheit weltweit übernehmen" müsse. Das Dokument rief dazu auf, eine Einigung über verbesserte "operative Effektivität" der EU-Kampftruppen zu erzielen, Cluster aus 1.500 Soldaten, die schnell eingesetzt werden sollten, aber seit 2007 noch nicht zum Einsatz kamen.

Außerdem wird dazu aufgerufen, die Systeme für Sicherheit im Cyberspace auf den neuesten Stand zu bringen, eine Clearingstelle auf EU-Ebene einzurichten, um regionalen Verbündeten zu helfen, militärische Krisen zu verhindern oder zu bewältigen, das Management an den Grenzen zu verbessern und eine maritime Strategie zu entwickeln; diese zeigt, wie die EU ihre "strategischen Interessen" angesichts der Terrorgefahr, regionaler Konflikte, organisierter Verbrechen, der Verbreitung von Atomwaffen und Failed States sichern sollte. Trotz dieser Schritte wird die deutsche Debatte über Verteidigung nicht einfacher werden. Optimisten sagen, Deutschland werde ein "normales Land" werden, nicht nur wegen seiner selbstbewussten Verteidigung nationaler Interessen innerhalb der EU und in der Eurokrise, sondern auch im Hinblick auf Sicherheitsthemen, bei denen das Land auf eine Art und Weise zur internationalen Stabilität beiträgt, die seiner Größe und wirtschaftlichen Macht angemessen ist.

Kritiker betonen hingegen, es sei für Deutschland immer noch schwer, die historisch bedingte Abscheu gegenüber Krieg mit den eigenen nationalen Interessen und den Forderungen der europäischen Verbündeten und Nato-Partner unter einen Hut zu bringen. Die Optimisten und die Kritiker haben beide teilweise Recht: Deutsche Haltungen zu Krieg und Frieden verändern sich immer wieder, da das Land damit kämpft, sich an die zunehmend prekäre internationale Sicherheitslage anzupassen und darauf zu reagieren. Berlin ringt noch immer mit den Dämonen des Zweiten Weltkriegs und versucht gleichzeitig, auf der globalen Bühne mehr Verantwortung zu übernehmen.

Zweifellos wird die globale Krise, einschließlich der russischen Intervention auf der Krim und des Bürgerkriegs in Syrien, Deutschlands Überlegungen zu seiner zukünftigen Verteidigung beschleunigen. Viel hängt davon ab, wie sich die öffentliche Meinung in Deutschland entwickelt, sowie von der Fähigkeit politischer Entscheidungsträger, die Bürger von der Notwendigkeit einer entschiedeneren deutschen Antwort auf regionale und globale Spannungen zu überzeugen. Gaucks Botschaft des globalen Engagements sollte deshalb als erstes wichtiges Zeichen eines Umdenkens in Berlin betrachtet werden. Doch auch wenn die Diskussion über eine neue deutsche Haltung zur Verteidigung in Gang gekommen ist, sollte niemand über Nacht Veränderungen erwarten.

Aus dem Englischen von Carmen Eller