Viril, risikobereit, mutig

Der britische Journalist Geordie Greig erzählt das Leben des Jahrhundertmalers Lucian Freud

Ein Stück Rebhuhn vom Vortag, ein Glas Rotwein und grüner Tee aus zersprungenen Tassen. So sieht ihr erstes gemeinsames Frühstück aus. Über Jahrzehnte hat der britische Journalist Geordie Greig den Künstler Lucian Freud vergeblich kontaktiert. Nun steht er endlich in seinem Atelier. Ein Raum mit wackeligen Küchenstühlen und Bergen zerrissener Laken. Der Maler begrüßt ihn "wie eine Spinne eine Fliege empfangen würde".

In Freuds Bann geriet Greig schon als 17-jähriger Abiturient. Auslöser war das Gemälde "Naked Man with Rat". Das Aktbild eines langhaarigen Jünglings mit geöffneten Schenkeln und schwarzer Ratte. Als Greig das Werk in einer Ausstellung sieht, ist ihm, "als stünden mir Keith Richards und Picasso in einer Person gegenüber - viril, risikobereit, mutig, draufgängerisch". So viel Schwärmerei lässt Schlimmes befürchten. Steht hier der Bewunderer womöglich dem Biografen im Wege?

"Frühstück mit Lucian Freud" heißt Greigs Buch über den Maler, denn er traf ihn nach der ersten Begegnung regelmäßig zum Frühstück im Clarke's. Nach wenigen Seiten Lektüre ist glücklicherweise klar: Greig arbeitet nicht mit dem Weichzeichner. Der Autor porträtiert den Jahrhundertmaler nicht nur als genialischen Künstler, sondern auch als Egomanen, Wettschuldner und Schläger. Als Mann "voller Obsessionen, unbekümmert, egoistisch und rücksichtslos, ob es um Frauen oder um seine Malerei ging". Freud war "notorisch streitsüchtig", bretterte im Bentley durch London und borgte sich von einem Herzog Geld, "um Drohungen Londoner Gangster abzuwehren". Willkommen im wilden Leben des Lucian F. Geboren wurde er am 8. Dezember 1922 in Berlin, am 20. Juli 2011 starb er in London. 1933 flohen seine österreichisch-jüdischen Eltern mit den Kindern vor den Nazis nach England. Deutschland wollte er nie wiedersehen. Der Enkel von Sigmund Freud kam in einer Zeit auf die Welt, "als Pflüge von Pferden gezogen wurden", und er starb in einer Zeit, in der man seine Gemälde auf Computern speicherte.

In Greigs schön gestalteter Biografie gibt es Gemälde, Fotos, Auszüge von Gesprächen mit dem Maler oder seinen Zeitgenossen. Ganze Kapitel sind Freuds Frauen gewidmet - den Angetrauten wie den Affären. Der Überblick über Lucians Liebesleben ist schnell verloren - so groß ist die Zahl der Liebhaberinnen (und offenbar auch Liebhaber). "Malerei und Sex - für Lucian gehörte beides zusammen", bemerkt Greig. "Lucian war auf sexuellem Gebiet zweifellos ein Opportunist und Vielfraß." Mit voyeuristischer Lust beschreibt der Autor Freuds erotischen Werdegang. Der Maler selbst meinte einmal, er beobachte den menschlichen Körper "wie ein Naturwissenschaftler, der im Labor ein Tier unter dem Mikroskop seziert". Wer seine Aktbilder betrachtet, sieht Falten, Körperhaare, Details von Genitalien. "Viele fanden seine Kunst überholt", zitiert Greig den Kunstexperten James Kirkman.

Gefragt bei Sammlern waren in den 1970er-Jahren eher Pop Art und kinetische Kunst, keine figürliche Malerei. In Amerika meinte man zunächst, Freud sei "hinter der expressionistischen und abstrakten Avantgarde zurückgeblieben"? Ein Weltstar wurde er trotzdem. Ein Höhepunkt seiner Karriere: "Benefits Supervisor Sleeping", das Aktporträt der fülligen Sue Tilley. Im Mai 2008 kaufte es der russische Oli­garch Roman Abramowitsch - für 17,2?Millionen Pfund. "Ich male Menschen, die ich mag und die mich interessieren", hat Freud selbst erklärt. Auch seine Kinder zählten zu diesem Kreis. 14 hat er offiziell anerkannt. Fünf von ihnen - Annie, Bella, Esther, Rose und Freddy - hat er nackt porträtiert. Nur wenige Kinder bekamen die Telefonnummer ihres Vaters. Bei einem Gespräch im Clarke's erklärte Freud dem Biografen: "Ich wollte immer unabhängig sein (...) Familie hat mich nie groß interessiert."

Greigs Buch ist eine Schatzkiste der Erinnerungen. Doch viele Themen wiederholen sich: Freuds Vorliebe für die Briefe Flauberts, sein waghalsiger Fahrstil, seine sexuellen Obsessionen. Die Biografie aus der Feder eines Bewunderers ist mitreißend und manchmal fast boulevardesk. Sie zeichnet das private Porträt eines Künstlers, erzählt aber auch von seinen Modellen. "Wär das okay für dich, nackt und mit Ratte?", fragte Freud 1977 Raymond Jones, sein erstes männliches Aktmodell. Als dieser für "Naked Man with Rat" posiert, muss er aushalten, dass der schwarze Nager, wie er sagt, "in der Nähe meiner Eier sitzt". Damit das Tier über Stunden stillhielt, legte ihm der Maler eine spezielle Mahlzeit in den Fressnapf: Käse, Champagner und eine halbe Schlaftablette.

Frühstück mit Lucian Freud. Von Geordie Greig. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Nagel & Kimche, Zürich, 2014.