Ursprung der Sehnsucht
Inseln faszinieren die Menschen schon seit Langem. Ein Streifzug durch die Kulturgeschichte
Schaut man sich die Präsenz von Inseln in Reiseprospekten, in der Literatur und in den Medien an, fallen vor allem zwei Aspekte der Inselfaszination auf: zum einen die „einsame Insel“, zum anderen die damit verbundene romantische Sehnsucht. Die beliebte Frage, welchen Menschen oder auch welches Buch jemand auf eine einsame Insel mitnehmen würde, scheint paradigmatisch dafür, setzt sie doch voraus, dass jeder einen solchen Wunschtraum kennt und dass die Vorstellung eines Inseldaseins eine Weltflucht und Einschiffung in die eigene Fantasie ist.
Einem nüchternen Betrachter fällt jedoch die Widersprüchlichkeit solcher Reden auf: Denn in der Realität unterzieht sich kaum jemand der Mühe, mit Geliebten oder Büchern einsame Inseln aufzusuchen. Stattdessen locken schnell erreichbare Ferienparadiese mit Heerscharen weiterer Touristen. Man könnte dafür den Mangel an Zeit und Geld verantwortlich machen. Aber auch der Inseltourismus betuchterer Schichten, der dem überall gepflegten Inselbild vielleicht näherkommt, steigt und fällt proportional zu einer modernen Infrastruktur, die die evozierte Insularität de facto auslöscht.
Überdies steht es jedem einigermaßen situierten Durchschnittsbürger frei, sich seine eigene „Insel“ zu suchen oder zu schaffen, indem er etwa ins Auto steigt und aufs Land fährt oder nur die Tür der eigenen Wohnung zumacht, um mit sich oder einem Buch oder einem geliebten Menschen allein zu sein. Es zeigt sich indes, dass die meisten es vorziehen, sich ihre Sehnsucht nach insularer Romantik, Exotik und Ferne lieber vom Abendprogramm im Fernsehen bestätigen lassen, als Anstrengungen zu unternehmen, ihren eigenen „Traum“ zu realisieren.
Wendet man aber den Blick auf die in Literatur und Kunst dokumentierten Beispiele der uralten Inselfaszination, gelangt man zu dem überraschenden Befund, dass die Sehnsucht nach einem einsamen Inseldasein darin eine geringe Rolle spielt. Es gibt nicht ein einziges stichhaltiges Beispiel dafür, dass vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert überhaupt irgendjemand eine solche Sehnsucht verspürt hat. Erst mit den Inselträumereien Jean-Jacques Rousseaus und der „Entdeckung“ der Südseeinsel Tahiti, mit dem zeitgleich einsetzenden Italientourismus und der Einbindung des Inselmotivs in die Anlagen der „englischen“ Landschaftsgärten verwandelte sich die Insel in jenen zugleich einsamen und ersehnten Ort, den wir aus heutigen Medien und von uns selbst zu kennen glauben. Wenn uns heute beinahe jede jemals geschilderte oder bebilderte Insel – angefangen von denen der „Odyssee“ über Platons „Atlantis“ bis zu der Robinson Crusoes – romantisch und außerdem real und potenziell erreichbar erscheint, dann offenbar nicht, weil es in der Natur der Inseln liegt, solche Vorstellungen zu schüren, sondern weil diese Inseln für eine erst im modernen Weltbild an sie geknüpfte Sehnsucht einstehen.
Andererseits lassen die historischen Überlieferungen keinen Zweifel, dass Inseln den Menschen schon seit Vorzeiten und in allen Kulturkreisen fasziniert haben – nur dass diese Faszination anders als heute konfiguriert war und ihre Vorzeichen sich von Kultur zu Kultur und Epoche zu Epoche unterscheiden. Als ein erstes markantes Motiv ist die nahezu universelle Funktion von Inseln in Weltentstehungs- und Schöpfungsmythen hervorzuheben. Die überschaubare und abgeschlossene Gestalt einer Insel bot sich zunächst als eine Art „Mikrokosmos“ an, der es erlaubte, die unüberschaubare große Welt und deren Geschichte auf eine elementare Anfangsfigur zurückzuführen.
Eine sowohl in altorientalischen als auch asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Kulturen weitverbreitete mythische Vorstellung führt den Anfang des Weltgeschehens auf ein in den Urwassern schwimmendes Ei zurück, das ein Urvogel oder eine Urschlange dort abgelegt und das sich später in Erde und Himmel geteilt hat. Im alten Ägypten war die Vorstellung der „Insel des Aufflammens“ mit dem Bild einer Lotosknospe verknüpft, aus welcher der Sonnengott Horus emporstieg. Die großen Städte Ägyptens – Theben, Hermopolis, Elephantine – stritten sich jahrhundertelang um die Ehre, auf dem Boden dieser einstigen „Insel“ zu stehen. Auf dieser soll sich ein Tempelbezirk mit einem von Seerosen bewachsenen Teich befunden haben, der als Rest des einstigen Urwassers betrachtetet wurde.
Zahlreiche Insellegenden lassen die Ikonografie einer solchen Urinsel erkennen, die sich insbesondere in der Verbindung mit Insignien eines Sonnenkultes geltend macht. Auch die Inseln, die im Epos Homers als Reiseziele des Odysseus fungieren, geben – von der des griechischen Sonnengottes Helios bis hin zum Erscheinungsbild der Circe – diesen mythischen Hintergrund zu erkennen. Man könnte sagen, dass Homer die Reden von solchen Ur- oder Sonneninseln aus einer fernen Vorzeit an den Rand der schiffbaren Welt versetzt und damit als potenzielle Reiseziele – zumindest für Expeditionen der dichterischen Einbildung – entdeckt hat. Nicht zufällig galt Odysseus – in seiner Doppelgestalt als Reisender und Erzähler – in der Antike auch als ein Sinnbild des wortgewaltigen Dichters.
Das Modell einer „Irrfahrt“ in den Grenzbezirken von wirklicher Welt und Mythos hat über die gesamte Antike hinweg nichts von seiner Faszination verloren und kann als struktureller Code der epischen Literatur überhaupt betrachtet werden. Die auf solchen Wegen erreichten „Inseln“ sind von Homer bis Lukian und Heliodor als Schauplätze signiert, an denen sich die poetische Einbildungskraft des Autors und die mythische andere Weltseite begegnen. Dabei sind die Grenzen zwischen fiktionaler und historisch-geografischer Literatur fließend. So wird die viel beschworene Sonneninsel noch in der im 1. Jahrhundert nach Christus verfassten Weltbeschreibung von Plinius dem Älteren berücksichtigt.
Auch die in Platons „Kritias“ und „Timaios“ eingeflochtenen Schilderungen der Insel Atlantis bedienen sich offensichtlich am Inventar der Inselmythen. Gleichwohl hat kein antiker Autor eine persönliche Sehnsucht nach Inselreisen bekundet oder gar aus anderen als rein praktischen Zwecken eine solche beschwerliche Exkursion unternommen. Die einzige Textstelle, die dies nahelegen könnte – Horaz’ Aufforderung an die römische Jugend, „nach den glücklichen und reichen Gefilden und Inseln“ zu ziehen –, ist wohl eher in metaphorischem Doppelsinn zu lesen. Wenn der römische Kaiser Tiberius sich wenig später tatsächlich von Zeit zu Zeit in seine Villa auf Capri zurückzog, gab dies der Öffentlichkeit eher Anlass, als Grund dafür einen unehrenhaften Lebenswandel zu vermuten.
Nicht zuletzt hat die antike Inselliteratur auch auf die mittelalterliche Paradiesvorstellung und über diese auf das frühneuzeitliche Weltbild abgefärbt. Die mit Beginn der großen Entdeckungen in den Weltmeeren auftauchenden Inseln legten ihren Entdeckern und den Lesern der Reiseberichte nahe, ihr Erscheinungsbild mit den überlieferten Inselschilderungen in Einklang zu bringen. Die alten Texte stachelten so die Fantasie von Geografen und Schriftstellern an und begleiteten nicht zuletzt die Seefahrer selbst auf ihren Reisen, wovon Kolumbus’ „Bordbuch“ eindrucksvoll Zeugnis ablegt.
Der englische Autor und Politiker Thomas More verdankt dem Verwechslungspotenzial von Imagination und Wirklichkeit den Plot seiner ebenso literarisch brillanten wie politisch brisanten Erzählung „Utopia“, die 1516 erschien und mit der er die in der Folgezeit ergiebige Textgattung der „Inselutopie“ begründet hat. Zur selben Zeit begannen die europäischen Fürsten, ihre Höfe mit künstlichen Circe-, Kalypso- und Venusinseln sowie mit „indianischen“ und anderweitig „glückseligen“ Inseln auszustaffieren. Diese dienten zugleich als Schauplätze theatralischer Aufführungen und rauschender Inselfeste, etwa bei den spektakulären Fiestas am Madrider Hof Philipps IV. um 1640 und bei den von Ludwig XIV. in Versailles veranstalteten „Plaisirs de’l Île enchantée“. Eine ausgesprochene Inselsehnsucht ist indes auch bei diesen Veranstaltungen nicht zu erkennen, man zog es vielmehr vor, sich die passende Insel vor der eigenen Haustür zu bauen oder bauen zu lassen, entweder im fürstlichen Hofgarten oder vermittels der Einbildungskraft und der diese anregenden phantastischen Romane.
Bezeichnend für den mit diesen Entwicklungen verbundenen Wandel der neuzeitlichen Inselvorstellung ist ein neuer Typus des Inselhelden, der seit Beginn des 17. Jahrhunderts seine ersten Schritte auf dem literarischen Parkett tut: Statt sich auf abenteuerlichen Reisen zu erproben, zieht er es vor, sich als Statthalter seiner eigenen Insel zu inszenieren. Erste Prototypen dieses typisch neuzeitlichen Inselsubjekts liefern die Figur des Prospero in Shakespeares „Sturm“ und der allwissende Führer der „Sonnenstadt“ in Campanellas gleichnamiger Erzählung. Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“ schließlich gab den aufstrebenden Bürgern seiner Zeit ein Lehrbeispiel dafür, wie man allein durch beharrliche Arbeit und technisches Know-how aus einer öden Insel ein gutbürgerliches Haus mit Garten macht.
Ganz offensichtlich bedurfte es zunächst der Idee eines „selbstbewussten Subjekts“, die der Antike, dem Mittelalter und selbst der frühen Neuzeit gleichermaßen zu fremd war, um auch eine dazu passende „einsame Insel“ zu denken. Von einer gleichzeitig erwachenden Sehnsucht nach einem einsamen Inseldasein kann jedoch zu Zeiten Robinson Crusoes noch keine Rede sein: Die einzige Sehnsucht, die Robinson kennt, ist bekanntlich die einer baldigen Abreise von seiner Insel und Rückkehr nach Hause. Die künstlichen Inseln in den fürstlichen Gärten mochten als Sehnsuchtsorte erscheinen, aber nur deswegen, weil es keine tatsächlichen Inseln waren, sondern mit architektonischen Mitteln inszenierte Sinnbilder der absolutistischen Macht und ihrer politischen Verheißung. Die einsame Insel, auf der Robinson Crusoe seine Bewährungsprobe als leistungsfähiges bürgerliches Subjekt erlebte, war demgegenüber nichts als eine harte Schule für den tagtäglichen Existenzkampf. Der Blick darauf änderte sich allerdings in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als der Mensch sich als ein historisches und lebendiges Wesen wahrzunehmen und nach seinem Ursprung und „Naturzustand“ zu fragen begann.
Da ein glaubwürdiges Abbild dieses Naturzustands nur in einem vom zivilisatorischen Fortschritt bis dato unberührten Randgebiet erhofft werden konnte, richtete sich der Blick zu jener Zeit mehr und mehr auf bisher unentdeckte Inseln im südlichen Pazifik. Es spricht für sich, dass Tahiti zwischen 1767 und 1768 innerhalb eines Jahres gleich dreimal „entdeckt“ wurde — während es tatsächlich schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts von einer spanischen Expedition angelaufen und damals links liegen gelassen worden war. Die Reiseberichte bestätigten allesamt jenen paradiesischen „Naturzustand“, der in den letzten Jahrzehnten in Europa Gegenstand der Betrachtung geworden war.
Der neue Blick auf die am anderen Weltende gelegenen Inseln, der sich am Ende des 18. Jahrhunderts in der europaweiten Tahiti-Begeisterung geltend machte, wird verständlicher, wenn man ihm die zur selben Zeit einsetzende neue Lesart des „Robinson“ zur Seite stellt, die Defoes erklärter Intention geradezu entgegenläuft und vor allem in Jean-Jacques Rousseaus Interpretation des Romans manifest wird. Das aus dem Schiffswrack geborgene technische Instrumentarium Robinsons und weitere Details der Erzählung unterschlagend, stellt Rousseau Robinson in seinem pädagogischen Roman „Émile“ aus dem Jahre 1762 vielmehr als vorbildlichen „Naturburschen“ dar: Die einsame Insel verwandelt sich vom Verhängnis zur Verlockung und offeriert dem von der Zivilisation verdorbenen Europäer die Rückkehr in seinen vorzeitlichen „Naturzustand“. Dass sie dabei trotzdem ihre „Einsamkeit“ behält, die den zur selben Zeit entdeckten „Urvölkern“ wie den Tahitianern allem Anschein nach vollkommen fremd war, sagt wenig über Inseln aus, aber alles über die spezifische Brille des darauf blickenden modernen Menschen.
Wenn sich Rousseau gern als den „geselligsten“ aller Menschen hingestellt, zugleich aber von allen Menschen verlassen gefühlt und in der Konsequenz davon auf die „einsame“ St. Petersinsel im Bielersee zurückgezogen hat, wenn die Verheißung Tahitis, kaum aufgetaucht, wieder verschwindet, weil die „Pest der Zivilisation“ sie unwiderruflich eingeholt hat, wenn Goethe auf Sizilien, später Nietzsche auf Ischia und Gauguin auf Tahiti den Sichtkontakt zu ersten und letzten „Wahrheiten“ suchen – so drückt sich in all dem die spezifische Befindlichkeit eines durch und durch subjektiven und eben darum einsam-sehnsüchtigen Menschentypus aus, der seit 250 Jahren auf der Suche nach sich selbst ist, ohne sich dabei zu finden. Es ist offenbar dieser Mensch, der die Insel als seinen Spiegel braucht und von dem die „einsamen Inseln“ der Filme, Lieder und Reiseprospekte mit ihrer sehnsüchtigen Melodik bis heute erzählen.