Inseln

Sich sonnen, wo die Toten lagen

Anders Behring Breivik machte innerhalb einer Stunde aus dem Sommerparadies Utøya eine Hölle. Welche Zukunft hat die norwegische Insel?

Es war Herbst, als Journalisten Utøya das erste Mal nach dem Massaker besuchen durften. In zu großen Gummistiefeln stapften wir über die matschigen Wege, den Notizblock in der einen, die Kamera in der anderen Hand. Es war kühl und so klar wie es nur im Oktober sein konnte. Die Blätter an den Bäumen waren gelb gefärbt.

Ich war überrascht, dass es nicht die eindeutigen Spuren des vergangenen Massakers waren – Einschusslöcher in den Wänden und Blutflecken auf dem Fußboden des Cafégebäudes –, die den stärksten Eindruck auf mich machten. Es war die Insel selbst. Auf allen Bildern, die ich gesehen hatte, sah es so aus, als wäre die Insel dicht bewachsen. In Wirklichkeit stehen die Bäume weit auseinander, die Landschaft ist offen, nackt. Die Klippen ragen steil empor wie Felswände. Es gibt fast keine Verstecke.

Wie die meisten Norweger hatte auch ich vor dem 22. Juli 2011 noch nie von der Insel Utøya gehört. Die Nation stand nach der Explosion im Regierungsviertel, dem größten Anschlag auf unseren Staat seit dem Zweiten Weltkrieg, am Nachmittag unter Schock. Im Laufe des Abends wurde klar, dass die Bombe erst das Vorspiel gewesen war: Es waren die schutzlos ausgelieferten Jugendlichen auf der Insel Utøya, die das Hauptziel des Terroristen Anders Behring Breivik waren. Im Laufe von nur 69 Minuten, von 17:21 Uhr bis 18:30 Uhr, ermordete er 69 Menschen, die meisten davon Kinder und Jugendliche. Utøya wurde zum Symbol des Schreckens.

Seit den 1980er-Jahren trafen beim Sommercamp der sozialistischen Arbeiterjugend (AUF) auf Utøya junge Politikbegeisterte zum ersten Mal auf ihre großen Vorbilder, dort wurde bei vielen aus politischem Engagement eine Berufung. Aber wichtiger als all das war für Hunderte aktive und Tausende inzwischen erwachsene ehemalige Mitglieder, dass Utøya ihr Ferienparadies war. Mit Glanz in den Augen und Wehmut in der Stimme erzählten sie von romantischen Spaziergängen am „Liebesweg“, Gitarrenspiel und dem Singen am Lagerfeuer, lebenslangen Freundschaften und Zusammenhalt. Einer der Ehemaligen sagte mir: „Es regnete eigentlich ständig während der Sommercamps. Aber wenn ich so zurückdenke, erinnere ich mich trotzdem nur an Sonnenschein.“

So ist es auch nicht verwunderlich, dass der AUF-Vorsitzender Eskil Pedersen schon wenige Stunden nach dem Massaker betonte, dass seine Partei Utøya zurückerobern wolle. Der Terrorist dürfe nicht gewinnen. Utøya sollte nicht die Insel des Schreckens bleiben, sondern ein neues Sommerparadies werden.

Nachdem ein Jahr vergangen war, präsentierte die AUF Pläne, wie Utøya in Zukunft aussehen sollte. Das Cafégebäude, in dem 13 Jugendliche starben, sollte abgerissen werden. Die Pfade sollten asphaltiert, eine Außenlichtanlage eingerichtet werden, sodass kein Winkel der Insel im Dunkeln bleiben würde.

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Viele der Hinterbliebenen fühlten sich übergangen und waren entsetzt: Wollte die AUF alle Spuren der Schmerzen verwischen und so tun, als wäre nichts gewesen? Grete Foslund Dahl, Mutter der 16-jährigen  Åsta Sofie, die auf dem „Liebesweg“ ermordet wurde, fragte: „Wie kann sich jemand an den Strand legen und die Sonne genießen dort, wo die toten Jugendlichen lagen? Wie kann man sich auch nur vorstellen, dass auf der Insel, auf der 69 Menschen getötet wurden, wieder Gesang, Freude und Enthusiasmus herrschen?“

Die Parole, Utøya wieder zurückzuerobern, verstummte daraufhin. Die AUF sah ein, dass die Wunden der Überlebenden und Angehörigen noch zu frisch waren und sie mehr Zeit brauchten. So wurden die Pläne vertagt – doch nicht für lange. Nach dem Willen der AUF sollen in diesem Herbst die Abrissarbeiten am Cafégebäude und der Wiederaufbau der Insel beginnen. Schon im nächsten Jahr soll das erste Sommercamp auf der neuen Insel Utøya stattfinden. Nur ein Jahr später als ursprünglich gedacht.

Utøya wird für immer eine gezeichnete Insel bleiben. Für viele derer, die dort Angehörige verloren oder den Albtraum selbst überlebt haben, wird die Insel im See nie etwas anderes sein können als ein Ort des Schreckens. Zwar heißt es, die Zeit heile alle Wunden, aber niemand weiß, wie viel Zeit es dafür braucht. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Wunden ausreichend behandelt werden, wenn im nächsten Jahr Utøya als das neue Sommerparadies der AUF wiederauferstehen wird.

Aus dem Norwegischen von Doris Wöhncke