Rotbauchdrossel und Kreischeule
Im Delta des Río Paraná in Argentinien suchen Einzelgänger die Schönheit der Natur
Noch ohne elektrisches Licht und mit Fischottern, die unter den Häusern rumorten, und einem Rothirsch, der aus der Ferne herüberspähte, waren die Inseln im Delta des Río Paraná Mitte der 1970er-Jahre ein Traum für Kinder. Man fand aber auch die eine oder andere Leiche dort, die, von der Militärdiktatur in den Río de la Plata geworfen, wenn das Wasser hochstand, in die kleinen Flüsse des Deltas gespült wurde. Schrecken und Schönheit rudern hier in Lateinamerika gemeinsam, wie sie es schon immer getan haben.
Viele der Inseln im Delta tragen keinen Namen, es gibt Hunderte von namenlosen Eilanden und Hunderte von Flüssen und Bächen mit Namen, die sich in das riesige Delta ergießen, das schließlich in den Río de la Plata mündet. Wir benennen die namenlosen Inseln nach den Flüssen, in denen sie liegen, oder wir sprechen schlicht von „der Insel“ in der Einzahl, „Ich fahre zur Insel“, „Wie steht’s auf der Insel?“, „Bist du zurück von der Insel?“
Meine Herzensinsel liegt am Río San Antonio, an den Ufern der Bäche Felipe und Marchini. Man fährt zu ihr mit einem Wassertaxi vom Landesteg der Stadt Tigre am Rand von Buenos Aires aus. Man erreicht sie mit seinem Gepäck und seinen Hunden oder allein mit seiner Seele. Es gibt heute elektrischen Strom, der jeden Tag ausfällt, eine instabile Internetverbindung und ein ebenso schlechtes Funknetz; man sieht immer wieder Menschen, die für ihre Handys Empfang suchen, und es gibt einen Laden, um einzukaufen, es fahren aber auch Versorgungsboote vorbei, im Sommer regelmäßig, im Winter sporadischer. Eine feste Bevölkerung lebt oder verbringt lange Zeiträume im Delta, andere sind Wochenendgäste oder kommen nur einmal im Jahr. Viele Hütten, errichtet auf Pfählen wegen des Hochwassers, das die Südostwinde auslösen, wenn sie das Wasser des Rio de la Plata landeinwärts treiben, stehen leer; andere sind bewohnt, es gibt viele Paraguayer, die auf die Inseln ausgewandert sind und beim Hausbau helfen, Parks und Gärten pflegen und putzen. Hier setzte vor vielen Jahren der Dichter Leopoldo Lugones seinem Leben ein Ende, indem er in El Tropezón am Río Paraná de las Palmas Zyankali einnahm.
Bei Neumond, mit dem Himmel voller Sterne, Orion im Zenit und dem Sternbild Zentaur, das das Kreuz des Südens umschließt, leben wir hier in einer anderen Welt, unter kreolischen Weiden und Pindó-Palmen, die den Bronzeguanen und den Wolken von Sittichen Nahrung geben; der Rotbrustfischer, der über den ausgetrockneten Bach schießt, und der Elfenbeinspecht verschmähen die Früchte der Pindó-Palme, sie fressen lieber Insekten und winzige Fische. In der Abenddämmerung hört man den Chor der Riesenwaldrallen und den Abschiedsgesang der Mistdrosseln wie ein Angelusläuten, und dann setzt das Heulen der Choliba-Kreischeulen oder der kleinen Payé-Eulen ein.
Und was soll man über den Tata erzählen, den Kartografen der Insel, über Juan, den Fischer und Gärtner, über Jorge, den Maler? Sie sind Seelenverwandte, die sich hier auf der Insel niedergelassen haben. Was über Virginia, die stark wie eine Eiche ist, sensibel und bewundernswert? Allesamt Menschen, die allein leben, mit denen man feste Freundschaftsbande geknüpft hat, die man aber nur kurz und selten sieht. Die Landschaft verändert sich aufgrund des Hochwassers ständig, der Schlamm setzt sich heute hier und morgen wer weiß wo ab, die Bootsstege und die Brücken sind dauernd bedroht. Wir sind Einzelgänger, scheint es mir, auch wenn wir uns nach der Anwesenheit anderer sehnen wie die Wasserhyazinthen, die sich in Scharen vereinen, bis die Kraft des Wassers ihre Bande wieder löst.
Vor Jahren kam mich mein kleiner Neffe Manuel auf der Insel besuchen. Er wird wohl vier, fünf Jahre alt gewesen sein, und als wir in der Dämmerung zu meinem Haus gingen, hörte er die Rotbauchdrosseln singen. Wer sind die denn?, fragte er und ich antwortete: Rotbauchdrosseln. Aber man kann sie nicht sehen, wandte er ein. Man hört sie aber, entgegnete ich. Und er schien auf einmal das Unsichtbare zu verstehen. Am nächsten Morgen fragte ich ihn, was ihm an der Insel am meisten gefällt. Die Rotbauchdrosseln, sagte er.
Aus dem Spanischen von Timo Berger