Die Suche nach dem Paradies
Warum etwas, was wir nur zufällig finden können, umso begehrenswerter ist
Die Länder von Utopia befinden sich (bis auf ein paar vereinzelte Ausnahmen wie dem Reich des Priesters Johannes) auf einer Insel. Die Insel wird als ein unerreichbarer Nicht-Ort empfunden, zu dem man nur durch Zufall gelangt und den man, wenn man ihn einmal verlassen hat, nicht mehr wiederfindet. Nur auf einer Insel kann sich daher eine vollkommene Kultur herausbilden, von der wir lediglich durch Legenden erfahren.
Obwohl die griechische Kultur zwischen Archipelen lebte und mit Inseln vertraut gewesen sein musste, sind es stets nur geheimnisvolle Inseln, auf denen Odysseus der Circe, dem Polyphem oder der Nausikaa begegnet. Inseln werden in den Argonautika des Apollonios Rhodios entdeckt, auf Seligen oder Glücklichen Inseln landet der heilige Brendan während seiner Navigatio, auf einer Insel liegt die Stadt Utopia des Thomas Morus, auf Inseln blühen die unbekannten vollkommenen Kulturen, von denen das 17. und 18. Jahrhundert träumten, von der Terre Australe bei Foigny bis zu den Sevarambes bei Vairasse. Auf einer Insel suchen die Meuterer der Bounty das verlorene Paradies (ohne es zu finden), auf einer Insel lebt Kapitän Nemo, von dem Jules Verne erzählt, auf einer Insel liegen sowohl der Schatz, dessen Suche Stevenson schildert, als auch der Schatz des Grafen von Monte Christo, und so geht es weiter bis zu den Inseln der negativen Utopien, von den Monstren des Dr. Moreau bis zur Insel des Dr. No, auf der James Bond landet.
Warum faszinieren uns Inseln? Nicht so sehr, weil sie Orte sind, die, wie der Name sagt, vom Rest der Welt „isoliert“ sind. Abgelegene, von der bekannten Lebenswelt separierte Gegenden haben Marco Polo oder Johannes von Plano Carpini auf riesigen Kontinenten gefunden. Sondern vielmehr, weil man bis ins 18. Jahrhundert, als es möglich wurde, die Längengrade zu bestimmen, zwar einer Insel durch Zufall begegnen und, wie Odysseus, auch von ihr fliehen konnte, aber kaum eine Chance hatte, sie jemals wiederzufinden. Seit den Zeiten des heiligen Brendan (und bis zu Gozzano) war eine Insel stets eine Verlorene Insel. (...)
Danach setzen die Reiseberichte der großen Seefahrer des 18. Jahrhunderts ein, Cook, Bougainville, La Pérouse etc. Auch sie waren auf der Suche nach Inseln, aber sie achteten sorgsam darauf, nur das zu beschreiben, was sie sahen, ohne der Überlieferung länger Glauben zu schenken. Und das ist eine andere Geschichte. In jedem Fall suchten aber auch sie entweder nach einer Insel, die es nicht gab, wie die Terra Australis (von der alle Atlanten fabulierten), oder nach einer Insel, die einmal gefunden, aber dann nie wiedergefunden worden war.
Daher bewegen sich unsere Phantasien über Inseln noch heute zwischen dem Mythos einer Insel, die es nicht gibt, also dem einer Abwesenheit, dem Mythos einer Insel, die zuviel ist, also dem eines Übermaßes, dem Mythos einer nicht gefundenen Insel, also dem der Ungenauigkeit, und dem Mythos einer nicht wiedergefundenen Insel, also dem der verlorenen Insel. (...)
Der heilige Brendan hat mit seinen mystischen Seefahrern viele Inseln berührt: die Insel der Vögel, die Insel der Hölle, die auf eine Klippe reduzierte Insel, an die Judas gekettet ist, und die scheinbare Insel, die schon Sindbad genarrt hatte – nachdem Brendans Schiff auf ihr gelandet ist, entdeckt die Mannschaft erst am folgenden Tag, als sie Feuer entzündet und die Insel sich wütend aufbäumt, dass es sich gar nicht um eine Insel handelt, sondern um ein schreckliches Seeungeheuer, das auf den Namen Jasconius hört.
Doch die Insel, von der die Phantasie der Nachgeborenen am meisten angeregt wurde, ist die Insel der Seligen, eine Art irdisches Paradies, auf der unsere irischen Seefahrer nach einer siebenjährigen Irrfahrt landen, ein „Land, kostbarer als alle anderen wegen seiner Schönheit, wegen der wunderbaren, anmutigen und entzückenden Dinge, die es dort gab, wie der schönen, klaren und kostbaren Flüsse mit ihrem herrlichen, süßen und frischen Wasser, auch gab es dort vielerlei Bäume, alle kostbar und mit kostbaren Früchten, und Rosen und Lilien und Veilchen und Gräser, und alles war duftend und vollendet in seiner Güte.
Und es gab Singvögel jeder entzückenden Art, und alle sangen sie wohlgeordnet einen allerlieblichsten zarten Gesang, so dass man sich wahrlich in einer Freudenzeit nach Art des süßen Frühlings vorkam. Und die Straßen und Wege dort waren alle gepflegt, mit kostbaren Steinen gearbeitet, und es gab soviel Gutes, dass allen, die es mit eigenen Augen sahen, vor Freude das Herz aufging, und es gab zahme und wilde Tiere aller Art, und sie gingen und lebten, wie es ihnen gefiel, und alle lebten friedlich beisammen, ohne einander Böses zu tun oder Verdruss zu bereiten; und auch die Vögel lebten in gleicher Weise zusammen. Und es gab Weinberge und Lauben, immer gut versorgt mit kostbaren Trauben, deren Güte und Schönheit die aller anderen übertraf.“
Die von Brendan besuchte paradiesische Insel ruft ein Begehren hervor (was weder bei Atlantis noch bei Ogygia oder der Phäakeninsel der Fall war). Während des ganzen Mittelalters und noch in der Renaissance glaubt man fest an ihre Existenz. Sie erscheint auf den Karten, so auf der Ebstorfer Weltkarte, und eine Karte von Toscanelli für den König von Portugal zeigt die Sankt-Brendan-Insel mitten im Meer, auf dem Weg zu jenem Japan, das man „den Osten im Westen suchend“ erreichen wollte – und fast prophetisch liegt sie dort, wo später Amerika sein wird.
Manchmal liegt sie auf der Höhe von Irland, auf den neueren Karten rückt sie weiter nach Süden, auf die Höhe der Kanarischen Inseln oder der Insulae fortunatae, und oft werden diese Glücklichen Inseln mit der nach Sankt Brendan benannten vermischt, manchmal wird die Sankt-Brendan-Insel auch mit Madeira gleichgesetzt und manchmal mit einer anderen inexistenten Insel wie der mythischen Antilia, so in der Arte de navegar von Pedro de Medina im 16. Jahrhundert. Auf Martin Behaims Globus von 1492 liegt sie viel weiter westlich und in der Nähe des Äquators. Und da hat sie schon den Namen Insula perdita, verlorene Insel. (...)
Die Insel des heiligen Brendan ist keine Insel, die es nicht gibt, denn jemand ist ja dort gewesen, aber sie ist verloren, da niemand mehr zu ihr findet. Darum wird sie zum Inbegriff eines unbefriedigten Verlangens, und ihre Geschichte ist die Allegorie jeder wahren Liebesgeschichte, die Geschichte einer kurzen Begegnung, eines mystischen Doktor Schiwago, der seine Lara verloren hat. Die verzweifelte Liebe ist nicht die erträumte Liebe, die niemals kommen wird (die Insel, die es sicher nicht gibt, Illusion für in die Liebe verliebte Jünglinge), sondern die Liebe, die einmal da war und dann für immer verschwunden ist.
Der abgedruckte Auszug ist seinem neuen Buch „Die Fabrikation des Feindes“ entnommen. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Das Buch erschien im März 2014 im Carl Hanser Verlag, München. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.