Die falsche Sklaveninsel
Menschen kommen nach Gorée, um einem großen Unrecht zu gedenken – das in diesem Ausmaß dort nie geschah
Es ist oft dunkel, wenn ich auf die Insel zurückkehre. Man holt mich normalerweise am Flughafen von Dakar ab, fährt mich die kürzlich fertiggestellte und von „Sponsoren“ aus den Golfstaaten finanzierte Schnellstraße hinunter und lässt mich am unlängst privatisierten Gare Maritime aussteigen, der Hafenstation, von der aus die Fähren nach Gorée ablegen. Während der Überfahrt stehe ich auf dem Hinterdeck und halte die Nase in den Wind. Bündel von Lichtern flackern vor mir auf: vor Anker liegende Schiffe, die in der Bucht warten, bis sie in die Docks einlaufen können.
Die Hitze liegt meist wie eine erdrückende Decke über Stadt und Meer, die Luftfeuchtigkeit kann man mit Händen greifen und der üble Geruch von Feuchtigkeit und Fäulnis steigt einem in die Nase. Ein Silbermond, der durch die nächtlichen Wolken reitet, und funkelnde Sterne, nicht so klar oder zahlreich, wie sie normalerweise sind, denn die Regenzeit wird in diesem Jahr früh beginnen.
Die Insel, die der Überlieferung nach der Hauptumschlagplatz des Sklavenhandels in die Neue Welt war, liegt nur drei Kilometer vom Festland entfernt. Schon bald werden wir langsamer, um in die Bucht einzulaufen. Ungesehen, doch gefühlt gleitet in der Dunkelheit die Küste vorbei. Das innere Auge erinnert sich an Palmen, schwarze Basaltfelsen, die eindrucksvollen bunten Häuser gestreift von Zeit und Verwahrlosung und mit teils aufgerissenen Ziegeldächern, das Kap mit den Ruinen des Forts. Vom Ufer ist das Gemurmel leiser Stimmen zu hören. Wenn es so heiß ist, verbringen viele Menschen die Nacht im Freien, eingehüllt in nicht mehr als ein dünnes Tuch. Auf einigen Tischen vor dem Restaurant Boufflers stehen Kerzen, um ein spätes Mahl zu erhellen.
Es herrscht ein Gefühl der Vertrautheit, der Intimität, der selbstverständlichen Aufnahme. Die Insel Gorée von der Form einer Garnele ist wahrscheinlich nicht länger als eine Meile und an ihrer schmalen Taille gerade neunzig Meter breit. Keine Fahrzeuge, keine Stoppstraßen, eine Bevölkerung von vielleicht 1.500 Seelen. In vielerlei Hinsicht ist es ein typisches geschäftiges westafrikanisches Dorf. Familien, ethnische Clans kamen und gingen. Die meisten von ihnen sind Hausbesetzer, die die verwahrlosten, aber herrschaftlichen Privathäuser und die verfallenen öffentlichen Gebäude in Beschlag nahmen. Hier lebt man wie in einem großen Haus mit vielen Räumen, in dem es keine Trennwände gibt und man Geburt und Heranwachsen und Verfall und Fortgang und wieder Geburt ständig miterlebt.
Ich weiß all das, ohne dass ich es sehe. Manches davon kann ich um mich herum hören, so das sanfte Klatschen der einsetzenden Flut am schmalen Strand, der mit den Müllresten von Hunderten von Tagesausflüglern übersät sein wird. Ich weiß, ohne dass ich sie hören muss, von den Ziegen, den Katzen, den Habichten, den Tauben, den Spatzen und den Schwalben zu manchen Jahreszeiten, den Eidechsen und den Geckos und den Fliegen. Seevögel allerdings gibt es hier nicht.
Gorée ist eine hybride Insel, hier gibt es keine „Reinheit“ und nur wenige Spuren der „ursprünglichen“ Einwohner; die Menschen kommen und gehen und alles, was bleibt, ist der Wind, der ihre Stimmen trug. Die Insel könnte auch der Ort sein, an dem Bastarde geboren werden und eine neue Sprache entsteht. Sie kann kein Ort von Recht und Gesetz sein. Man kann zwar hierhergehören, aber dieser Ort kann einem nicht gehören.
Der Anlegesteg ist ein langer Betonstreifen auf Holzmasten mit abgefahrenen Traktorreifen, die an den Seiten bespannt sind, um die anlegenden Boote zu schützen. Diese Anlegestelle, oder eine Variante von ihr, muss immer dort gewesen sein; sie spricht der Geschichte hohn, die den Besuchern des Sklavenhauses einige Hundert Meter weiter erzählt wird, wo man ihnen eine Tür namens „Pforte ohne Wiederkehr“ mit Blick auf das offene Meer zeigt. Durch sie sollen gefangene Sklaven angeblich gezwungen worden sein, über Laufplanken in den Frachtraum von Transportschiffen zu gehen, und diejenigen, die sich losrissen und ins Wasser sprangen, wurden von wartenden Haien verschlungen.
Alles unwahr. Nie wurden je Sklaven von diesem speziellen Haus exportiert, und welcher Kapitän hätte wohl bei vollem alkoholgetränkten Verstand inmitten der Felsen angelegt, wenn es in unmittelbarer Nähe einen Kai gab? Als Schriftsteller weiß ich jedoch um die Notwendigkeit einer „dramatischen Wahrheit“ und habe Mitgefühl mit ihr, die so viel mächtiger und überzeugender ist als die „wahre Wahrheit“. Pilgerziele und Kultstätten gründen nicht auf „Tatsachen“. Man sollte niemals zulassen, dass eine Tatsache einer Emotion, schon gar nicht der Empörung, in die Quere kommt.
Joseph Ndiaye, der vor einigen Jahren verstorbene Kurator des Sklavenhauses, ein ehemaliger Unteroffizier in der französischen Kolonialarmee – möge er in Frieden ruhen –, sagte immer, die Besten und Stärksten wären dem Kontinent genommen und verkauft worden, was – laut Ndiaye – die Überlegenheit der afroamerikanischen Athleten erklärte. Ein bissiger Wissenschaftler, der in den Archiven nach Dokumenten des Sklavenhandels recherchierte, erzählte mir dagegen, wie die holländischen Kapitäne, die akribisch Tagesregister führten, ausgesprochen frustriert waren, wenn sie nach monatelangen Zankereien unter Umständen mit einem zusammengewürfelten Haufen aus „menschlichem Ausschuss“ dastanden: mit Menschen, die zu alt, zu krank oder zu jung zum Arbeiten waren; und häufig auch mit den früheren Ehefrauen lokaler Stammesführer, derer sich die Männer entledigen wollten.
Wir kennen nur Fragmente der bewegten Geschichte dieser Insel aus den Texten von Seefahrern und Seeräubern und einigen wenigen erhaltenen Einträge der fast unlesbaren Aufzeichnungen der Niederländische Westindien-Kompanie. Der erste Europäer, der seinen Fuß auf diesen Boden setzte, war wahrscheinlich der portugiesische Seefahrer Dinis Dias 1444. Es heißt, die Insel sei unbewohnt gewesen, doch gab es hier Ziegen. Die Niederländer waren die Ersten, die sie „Goeree“ nannten. Sie bauten dort ein Fort, das oft geplündert, niedergerissen, niedergebrannt, wieder aufgebaut wurde. Der Wind wehte und Schüsse fielen und Geschichten entstanden aus einer Kreuzung von Realität und Imagination und Erinnerung, wie sie von Mund zu Mund zu Papier wandert.
Das heutige Gorée ist in seiner historischen und gesellschaftlichen, ja sogar religiösen Vielschichtigkeit fast unmöglich zu begreifen: eine Schimäre, die immer ein bisschen verschwommen ist. Die Häuser sind ausnehmend schön, in Rot oder Ocker oder Gelb gestrichen, zumeist jedoch verfallen, verschandelt und verdreckt. Der Strand, an dem die bunten Pirogen aus dem Meer gezogen werden, ist reizvoll und meist mit Unrat übersät. Die Luft ist schwer und süß vom Geruch der Frangipani-Bäume und dem durchdringenden Gestank von Exkrementen.
Männer und Frauen tragen leuchtende Gewänder und blitzsaubere und gebügelte Boubous, sie sind elegant, anmutig, stolz und distinguiert und sie bedrängen einen unaufhörlich und versuchen, ihren Krimskrams zu verkaufen oder einem das Geld auf andere Weise aus der Tasche zu ziehen. Der beiläufigste Gruß wird als Abschluss eines Handelsvertrags verstanden. Die jungen Frauen sind clever und keck – alles Geld, das sie haben, geht für Kleidung, Perücken und Make-up drauf, und bei Dunkelheit geben sie einem zu verstehen, dass sie käuflich sind. Selbst die kleinsten Kinder betteln um eine Münze oder einen Stift. Ist so das Paradies – eine Explosion an gemusterter Schönheit, staubig und schmutzig, farbenreich und arm, mit köstlichem Essen und gutem Bier und verdorben mit streunenden Katzen und Fliegen?
Der Satz, mit dem ich aufwache, ist von einem Mann, mit dem ich mich in Mali angefreundet habe, Bourema Diarra: „Die Toten haben das Recht zu schweigen.“ Ich laufe den Kopfsteinpflastergang entlang, der zum Sklavenmuseum führt. Vorbei an der scheußlichen Statue, die heute im Kaktusgarten steht, eine übrig gebliebene Votivgabe einiger „indépendantistes“ aus Guadeloupe. Sie ist die überlebensgroße Darstellung eines von der Natur üppig ausgestatteten Paares, das die Ketten sprengt. Ich erinnere mich an den Tag, an dem das kitschige Kunstwerk auf die Insel gebracht wurde. Die Besucher trugen rote Stirnbänder, sie waren ergriffen und weinten Freudentränen, als sie an den Ort zurückkehrten, von dem aus ihre Vorfahren in die Sklaverei verschifft worden waren. Die ansässige Bevölkerung schaute mit steinerner Miene zu und wartete auf das Ende des Gefasels an Reden und Beschwörungen, damit sie mit ihren Geschäften beginnen konnten.
Aus dem Englischen von Claudia Kotte